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Der Rock in der bäuerlichen Tracht
Vom Kleidungsverhalten in der Region Neckar-Alb – 1. Teil

von Stefan Zielke

 
In einem zweiteiligen Artikel beschäftigt sich unser Autor Stephan Zielke mit dem „Baurarock“. Gerade in der Region Neckar–Alb mit dem schwäbischen Kerntrachtengebiet rund um Betzingen gibt es eine Vielfalt von Wechselformen, die bei den Trachtengruppen weitgehend in Vergessenheit geraten sind und den Volkskundlern als Bearbeitungsgebiet zu uninteressant erscheinen. Im ersten Teil geht es um Grundsätzliches, um die Betzinger Tracht, die Tracht der evangelischen Alb und um die
Betzinger Tracht

Betzinger Tracht: Der blaue Tuchrock mit Goldborte wurde „Schnurrock“ genannt, da die Goldborte aus einer goldenen Schnur gewirkt war. Den „Schnurrock“ trugen nur Ledige zu festlichen Anlässen. Als Zeichen der Jungfräulichkeit galt die weiße Schürze. Die Männer tragen Sonn- und Festtagstrachten. Eine Besonderheit bei der Betzinger Tracht ist, dass die Kopfbedeckungen („Haube“ der Mädchen und „Schmerkappe“ der Männer) dieselbe Form haben.
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katholische Tracht um Rottenburg. Im zweiten Teil geht es dann unter anderem um „Männer in Frauenröcken“.
 

Von der Herkunft der Bauernröcke


Die auf uns heute sehr exotisch wirkenden Bauerntrachten sind ursprünglich keine Erfindungen bäuerlicher Einfallskraft und Schaffensfreude, sie haben vielmehr modische Vorbilder. Daher mischen sich in den bäuerlichen Trachten verschiedene Stilepochen abendländischer Moden. Die Bauern behielten modische Erscheinungen bei, die in der europäischen Mode längst abgegangen waren und durch zeitgemäße Modeentwicklungen ergänzt wurden.
 
Als Beispiel kann ein Vergleich der Betzinger Tracht mit der der Albbäuerin dienen. Bei der Betzinger Frauentracht wurde der Oberkörper von Mieder, Brustblätz, Breisnestel und Goller verhüllt, was den klassischen Aufbau der europäischen bürgerlichen und bäuerlichen Tracht vom 15. bis 18. Jahrhundert darstellt. Die Albbäuerin ersetzte diesen Aufbau wohl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das praktischere Leible, das heutzutage als klassische württembergische Bauerntracht angesehen wird. Die Betzingerinnen hielten also an einem ehemaligen modischen Vorbild fest, während andere Trachtenträgerinnen überwiegend zum sogenannten „Leibleshäs“ übergingen, das man aber auch in Betzingen vorfand.
 
Einschränkend auf die Aufnahme neuer modischer Entwicklungen im ländlichen Bereich wirkten sogenannte Kleiderordnungen, in denen Landesherren vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert ihren bäuerlichen Untertanen vorschrieben, welche Kleidungsstücke, Materialien und Farben vom „untersten bäuerlichen Stand“ verwendet werden durften. Größtes Anliegen der Landesherren war es, die Konjunktur des eigenen Landes zu fördern, d. h. Textilien und Materialien vorzuschreiben, die im eigenen Land produziert und verarbeitet wurden. Außerdem ging es darum, die feudal-ständische Ordnung zu erhalten, in welcher bereits an der Kleidung der Stand erkannt werden konnte. Durften sich die oberen Klassen des Adels nach der aktuellen französischen Mode kleiden, blieb dem untersten Stand der „gemeinen Bauers-Leuthe“ die von einheimischen Hauswebereien und Manufakturen hergestellten Stoffe. Der Kauf ausländischer Stoffe, Samt und Seide, Gold- und Silberschmuck war ein Privileg des Adels und war den
Bauern verboten.
 
Im Zuge der Französischen Revolution, dem Erstarken des bürgerlichen Selbstbewußtseins und dem damit zusammenhängenden Verfall der Ständegesellschaft wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend die Kleiderordnungen übergangen. Reiche Bauern tendierten immer mehr zu Kleidungsstücken, die aufgrund der Kleiderordnungen für sie eigentlich verboten waren. Deshalb erscheint in der Ratgeberliteratur dieser Zeit häufig die Empfehlung, auf Prunksucht zu verzichten und sich stattdessen mit Bescheidenheit zu schmücken. Die sich auflösende Ständegesellschaft bewirkte aber, dass solche Ermahnungen kaum Erfolg hatten.
 
Die von dem Volkskundler Dr. Albert Walzer als Wechselformen bezeichneten vielfach streng festgelegten Varianten der bäuerlichen Tracht für bestimmte Anlässe (z. B. Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Trauer, kirchliche Feiertage, Kirchgang, Sonntagnachmittag, Werktag), je nach Stand und Lebensalter (Ledige, Verheiratete, Ältere) und Unterscheidung armer und reicher Bauern spiegelt die bäuerliche Ordnung und die darin herrschenden Wertvorstellungen wider. Der Variantenreichtum rührt auch von den spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgegangenen Kleiderordnungen her und ist somit ein Überbleibsel derselben. Legten einst die adligen Landesherren die bäuerliche Kleidung fest, so regelten nach Wegfall der Kleiderordnungen die bäuerliche Gemeinschaft, die ländlichen Schneider und die Trachtennäherinnen, welche Wechselform für bestimmte Anlässe getragen werden sollte. Darüber hinaus wirkten auch noch im 19. Jahrhundert modische Einflüsse auf das Aussehen der Trachten ein.
 
Die im 19. Jahrhundert vor allem in Württemberg aufblühende Textilindustrie ermöglichte es nun der Landbevölkerung, die einst verbotenen und kaum erschwinglichen hochwertigen Stoffe wie Samt, Seide, Tuch, Borten und Bänder zu erstehen und diese in die bäuerliche Kleidung in den verschiedensten Farben und Formen einfließen zu lassen.
Betzinger Trachten

Betzinger Tracht: Der blaue Tuchrock mit schwarzem Samtband wurde als „Sametsperrlesrock“ bezeichnet. Ihn bekamen die Mädchen als erste Erwachsenentracht zur Konfirmation. Den „Sametsperrlesrock“ trug man zeitlebens zu freudigen Anlässen, aber auch zur Trauer. Die linke Frau trägt das einfachere „Leibleshäs“, die Tracht der Ärmeren, deren Oberteil lediglich aus einem „Samtleible“ bestand. Die mittlere Trachtenträgerin zog die Tracht lediglich zu dieser Fotografie an, erkennbar an den Schnürschuhen, die nicht zur Tracht gehörten. Die beiden anderen Frauen trugen zeitlebens die Tracht.
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Es kann also festgehalten werden, dass die uns heute bekannten, bunten und aufwändigen Trachten zumeist aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert stammen. Sie sind ein Resultat aus dem Wegfall der obrigkeitlichen Kleiderordnungen und dem Aufkommen der Textilindustrie. Die weitverbreitete Meinung, die bäuerliche Kleidung sei eine seit Jahrhunderten unveränderte Kleidungsweise ist nicht richtig, zumal uns meistens lediglich die Tracht des „Endstadiums“, vor dem Aussterben der Bauerntracht im Alltag, bekannt ist.

Modegeschichtliches zum Bauernrock


Der Vorgänger des Rockes, der bekanntlich von der Taille über die Hüfte herabreicht, ist das mittelalterliche Faltengewand, das vom Hals bis zum Knie reichte und zumeist umgürtet von Frauen und Männern getragen wurde. Im 15. Jahrhundert teilte sich das Faltengewand in zwei selbständige Kleidungsstücke: das Leibchen und den Rock. Während dieser Zeitepoche, der sogenannten Renaissance, wurden Elemente in die bäuerliche Kleidung aufgenommen, die bis zum Abgang der Volkstrachten im 20. Jahrhundert Bestandteile der Bauerntrachten blieben: das Hemd, der Rock, die Schürze und im Falle Betzingens sogar das Schnürmieder und das Goller.
 
Während der Renaissance wurden kurze Röcke zur Arbeit und längere für festliche Anlässe getragen. Bereits während der Reformation war es üblich, außer dem Oberrock noch einen Unterrock zu tragen. Auch die Verwendung kontrastfarbener waagrechter Blenden war bereits üblich. Unter dem Einfluss der spanischen Hofmode im 16. Jahrhundert begann man weibliche Hüfte zu betonen. Dazu wurden um die Hüfte Lederwülste gelegt, die man als „Weiberspeck“ bezeichnete. Die Form der Auspolsterung finden wir im 20. Jahrhundert noch bei der Gäutracht, bei der das Leible im Hüftbereich auswattiert wurde, worauf der Rock zu liegen kam.
 
Während des Dreißigjährigen Krieges erreichte man die Betonung der Hüfte mittels mehrerer Unterröcke und Raffen des Oberrockes in die Höhe.
 
Im Barock und Rokoko im Zuge der französischen Mode verbreiterten sich die Röcke durch Einführung der Reifröcke zu sinnloser Weite, die um 1750 bei allen nicht für festliche Angelegenheiten bestimmten Kleidern kleiner wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts beeinflusste die bürgerliche Kleidung immer mehr den Rock: In Paris kamen um 1760 sogenannte „halbe Paniers“, die in Deutschland
Maehringer Tracht

Auch im benachbarten Mähringen tragen die Frauen um 1920 die „Leiblestracht“.
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„Hänschen“ hießen, auf. Diese Röcke reichten nur noch bis zu den Knien und endeten am Saum in einem breiten Volant. Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Röcke im Umfang kleiner und in der Länge kürzer, so dass zum erstenmal in der europäischen Frauenmode vielfach kaum mehr die Wade bedeckt war. In den 1770er Jahren wuchsen sie wieder in die Länge und endeten vielfach in einer Schleppe.
 
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (um 1810) reichte der Rock noch bis zum Knöchel, bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts rückte die Taille an ihre natürliche Stelle, man verzichtete auf die Wattierung der Röcke, der freie Faltenwurf wurde modisch und die Röcke wurden kürzer und lockerer; die Kleidung passte sich den bürgerlichen Lebensbedingungen an. In den 1820er Jahren wurden die Röcke mit Borten reich verziert. Bereits in den 1830er Jahren nahm die Rocklänge derart zu, dass gerade noch der Fuß sichtbar war. Dabei nahm neben der Rocklänge auch die Rockbreite zu. Die Röcke wurden in dichte Falten gereiht und mehrere Röcke stufenförmig übereinander getragen. Zur gleichen Zeit wurden Volants beliebt. War es um 1840 noch üblich, lediglich einen Volant am Saum anzubringen, waren zehn Jahre später die Röcke oft mit vielen Reihen Volants bis zur Taille besetzt.
Während dieser Zeit gehörte das Karomuster zu den begehrtesten Mustern in der Mode.
 
Aus dem kurzen modegeschichtlichen Abriß des europäischen Rockes wird erkennbar, in welchen Epochen Einflüsse auf das Aussehen der Röcke der Landbevölkerung übergingen. Zum einen wird deutlich, dass während der Renaissance und Reformation der Rock und die Grundbestandteile der bäuerlichen Tracht ihren Anfang nahmen. Zum andern kann für die schwäbischen Bauerntrachten festgehalten werden, dass es vor allem die Entwicklungen der 1810 bis 1830er Jahre waren, die die Gestaltung der Trachtenröcke stark beeinflussten. Das um 1840 beliebte Karomuster könnte das Vorbild für die weit verbreiteten karierten Unterröcke sowie für die karierten Röcke der Schwäbischen Alb gewesen sein.

Der Rock zum schwäbischen „Baurahäs“


Die schwäbischen Trachtenröcke bestanden aus drei zusammengenähten Bahnen aus Tuch bzw. Wolle von ca. 112 cm Breite. Auf der Ulmer Alb bestanden die Röcke oft nur aus zweieinhalb Bahnen, eine Bahn bezeichnete man dort als „Blad“. Das Material ist derart dicht, fest und schwer, dass diese Röcke kaum verschleißen. Durch das Zusammennähen der Bahnen erhalten die Röcke einen Umfang von 3,5 bis 4 Metern. Die Bahnen waren gerade geschnitten und die Röcke erhielten ihre passende Weite dadurch, dass sie an der Hüfte zu engen Falten gerafft/gefältelt wurden. Die Falten am Bund haben in Betzingen und im Gäu eine Breite von ca. 10 cm. Die Falten der Röcke der Ulmer Alb sind knapp halb so lang. Auf der rechten Rockseite wurde für gewöhnlich aus „eigenem Tuch“ (schwäbische Bezeichnung für selbst angebaute, handgesponnene und -gewobene Leinwand oder Halbleinwand) ein ca. 20 cm tiefer Rocksack angebracht. Der Rocksack musste so groß sein, dass ein Pfünder-Brot hineinpasste.
Vorne wurde am Stoff gespart, da dieses Stück der Bahn unter der Schürze versteckt war. Im Gegensatz zum seitlichen und hinteren Teil des Rockes, an welchem die gerafften Falten sichtbar waren, war hier die Fältelung nicht erforderlich und außerdem konnte die Schürze auf diese Weise glatt herunterfallen. Diese Art der Fältelung ermöglichte es, bei Figurveränderungen weitere Falten zu raffen bzw. vom seitlichen Teil des Rockes Falten herauszulassen. Wenn ein Rock geerbt wurde, konnte er auf einfache Weise passend gemacht werden. Auch mit der Versetzung von Haft und Haken, mit denen der Rock vorne zu schließen war, konnte der Rock passend gemacht werden. Schwangere zogen am Rockschlitz ein Baumwollbändel durch, um den Bund zu erweitern.

Die Röcke der Betzinger Tracht und der Schwäbischen Alb hatten oberhalb des Rocksaums Besätze, die Hinweise auf den sozialen Stand und den Reichtum der Trägerin gaben sowie den Verwendungszweck des Rockes erkennen ließen (siehe dazu die Beschreibung der einzelnen Röcke in nächsten Heft). Die Röcke der Gäutracht dagegen hatten auf der rechten Seite keinen Besatz.
Der Saum der Betzinger Röcke wurde zum Schutz des Abstoßens lediglich umgeschlagen. Die Röcke der Gäutracht hatten entweder einen am Saum umgeschlagenen Baumwollbändel, eine Besenlitze oder eine Schnur/Kordel.
Auf der Ulmer Alb wurde entweder der auf der rechten Seite aufgenähte Samt-Rockbesatz umgeschlagen oder aber eine Schnur/Kordel zusätzlich angebracht.
 
Merklinger Tracht

Tracht der evangelischen Schwäbischen Alb (Merklingen): Zum „Musikhäs“, der Festtracht der Ledigen, gehörte ein blau-, violett- oder braunfarbener „tafleter Rock“ (getafelt = kariert) sowie die weiße spitzenbesetzte oder mit Durchbrucharbeiten versehene Schürze. Zum „Kirchahäs“ (Tracht zum Kirchgang) gehörte immer der „Jacken“ und die „Kirchahaub“ (Kirchenhaube).
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Die Frauen zogen ihre Röcke grundsätzlich von oben über den Kopf an, beim Ausziehen ließ man sie auf den Boden fallen und stieg heraus.
Die Qualität des Rockmaterials stand in Relation zu den finanziellen Möglichkeiten der Trägerin. Je besser die Stoffqualität, desto höher die Stellung innerhalb der Dorfhierarchie. Die Frauen achteten sehr aufeinander, man kannte die soziale Situation der einzelnen Dorfbewohner. Eine ärmere Bauern- und Handwerkerfrau musste sich unter Umständen als „hoffärtig“ (einen Dünkel haben) bezeichnen lassen, wenn sie sich in der Manier der reichen Rossbäuerinnen kleidete. Eine Kuhbäuerin hatte sich eben mehr zu beschränken als eine reiche Ochsenbäuerin oder gar eine Roßbäuerin. Das Tragen qualitativ hochwertiger Röcke war aber keineswegs bequem, je teurer ein Rockstoff war, desto schwerer war sein Gewicht. Diese sogenannten „Tuchröcke“ wogen mehrere Kilogramm.
Erschwerend kam hinzu, dass unter dem Oberrock generell ein Unterrock getragen werden musste, der zwar leichter, aber für heutige Verhältnisse dennoch schwer war. Das Weglassen des Unterrocks war undenkbar, die Frauen vertraten die Auffassung, dass der Überrock erst durch den Unterrock seinen passenden Sitz bekam. Der Unterrock hatte seinen „Rocksack“ auf der linken Seite des Rockes im Gegensatz zum Rocksack des Oberrocks, der sich auf der rechten Seite befand. Insbesondere an Regentagen erfüllte der Unterrock einen wichtigen Zweck. Es war nämlich üblich, den Oberrock von hinten über den Kopf zu stülpen, um damit ein Regendach zu schaffen, das Mensch und „Häs“ vor Nässe und Verschmutzungen schützen sollte. Zeitzeugen erinnern sich noch an die klein-karierten Unterröcke, die dadurch sichtbar wurden.
 
Die dichten und schweren Rockstoffe und die Verwendung mehrerer Bahnen Stoff bewirkten, dass die Mädchen und Frauen korpulenter wirkten, als sie in Wirklichkeit waren, man nannte das „Auftragen“. Trachttragende Frauen berichten, dass den Bauern ein „stattliches Weib“ lieber war als eine „hagere“. Von den kräftigen Frauen hieß es, diese könnten besser „schaffen“.
Übrigens wurde unter dem Rock bzw. Unterrock früher lediglich ein Leinenhemd getragen, eigene Unterwäsche kannten die Frauen nicht. Musste man „Wasser lassen“, spreizte man stehend die Beine, hob den Rock vorne und hinten etwas vom Körper weg und „verrichtete sein Geschäft“.
 
„Selbst gesponnen, selbst gemacht, das ist echte Bauerntracht!“ Dieser seit Generationen bekannte Spruch kann der Realität nicht standhalten. Viele Bestandteile der Bauerntracht wurden nicht von den Bäuerinnen selbst, sondern von gelernter Hand hergestellt. Dazu gehörte auch der Trachtenrock, der ein wesentlicher Bestandteil zu der im Volksmund als „Baurahäs“ bezeichneten Tracht war. In Betzingen nähte den Rock der Schneidermeister, im Gäu die „Gwandnähere“ und auf der Ulmer Alb die „Bauranähere“. Schneidermeister und Näherin kamen „auf der Stöhr“ ins Haus der Auftraggeberin, nahmen Maß und nähten vor Ort oder lieferten den fertiggestellten Rock. Eine Baisingerin, die noch den Beruf der „Gwandnähere“ erlernte, berichtete, dass sie im Haus der Auftraggeberin oftmals mehrere Tage nähte, um die Aufträge abzuarbeiten, wobei die handbetriebene Nähmaschine gute Dienste leistete.
 
In Betzingen und auf der Ulmer Alb trugen bereits Kinder Trachten, im Gäu bekam man seine erste Tracht nach der Schulentlassung. Kinder hatten aber lediglich einen minimalen Bestand an Trachtenröcken, der sich quantitativ und qualitativ auf das notwendigste beschränkte. An der Konfirmation, mit dem Zeitpunkt der Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen, bekamen die Mädchen den ersten „reachten Rock“. Im heiratsfähigen Alter, nachdem man ausgewachsen war, wurde die kostspielige Aussteuer angeschafft, die nach der Hochzeit ein Leben lang halten musste. Zudem erbten die Frauen die Röcke und Trachtenteile von der Mutter und ledigen Verwandten, nachdem diese gestorben waren. Eine 90-jährige Albbäuerin die noch heute „bäurisch“ (Bezeichnung für bäuerliche Kleidungsweise auf der Ulmer Alb) gekleidet ist, schämte sich für das Alter ihrer Röcke und sagte: „Des därf mr gar koim verzähle, wie alt dass auser Häs (schwäbische Bezeichnung für Tracht) ischt!“ Ein Albbauer, dessen hochbetagte Mutter heute noch Tracht trägt, meint: „Bei meirer Muater häm mr bei de Kloider viel Geld gspart, dia hot ihr Baurahäs, do muasch nix nochkaufa!“
 
Eine ebenfalls noch trachttragende Frau auf der Ulmer Alb erzählt, dass sie aus einer ärmeren Familie stammt und dass im Stall lediglich wenige Kühe standen. Diese Frau bekam in ihre Aussteuer lediglich einen schwarzen Rock für ihre Hochzeit und einen „tafleten“ (= karierten) Rock fürs Festhäs. Die Mutter dieser Frau rechtfertigte diese Sparsamkeit mit Hinweis auf die kommenden Erbaussichten: „Du brauchscht koine Röck, du kriagscht meine.“
Die Rockstoffe waren sehr teuer, deshalb beschränkten sich Ärmere auf das erforderliche Mindestmaß an Röcken und bevorzugten qualitativ weniger gute Stoffe, die meist leichter zu tragen, dafür aber nicht so langlebig waren. Reichere hingegen konnten mittels einer Vielzahl an schweren Röcken sowie – im Falle von Betzingen und der Alb – mit Rockbesätzen aus Bändern ihren Reichtum zur Schau stellen.
 
Altheimer (Alb) Tracht

Evangelische Albtracht (Altheim):Das „Festhäs“ wurde zu festlichen Anlässen getragen. Der karierte „taflete Rock“ galt als sehr festlich. Dazu gehörte ein „seidener Festschurz“, der „Festjacken“ und der „Festbod“ (Bund = Kopftuch).
Bei großer Hitze wurde die Jacke ausgezogen und die Frauen gingen hemdsärmelig im sogenannten „Weißem“.
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Nachdem die Röcke der Aussteuer zumeist aus ökonomischen Gründen ein Leben lang halten mussten und zumeist sogar noch vererbt wurden, ist es einleuchtend, dass die Frauen bestrebt waren, möglichst schweres langlebiges Material für die Röcke zu kaufen. Die Frauen wussten: „Mei Sach muaß mi aushalta!“. Besitzerinnen von schweren Tuchröcken betonten stolz: „Ausere Röck send et hee zom kriage“ (= unsere Röcke sind nicht kaputt zu bekommen).

Die Stoffe für die Röcke kauften die Auftraggeber in auf Bauerntrachten spezialisierten Kurzwarengeschäften, die ein umfangreiches Sortiment an Stoffen und Zubehör auf Lager hatten. Die Betzingerinnen gingen zum „Bühler“ nach Reutlingen in die Katharinenstraße, die Albbäuerin der Ulmer Alb kaufte entweder in Ulm oder „beim Albert“ in Neenstetten und die Bäuerin aus Oberndorf konnte beim „Schraivogel“ in Rottenburg a. N. einkaufen.
Fabriziert wurden die Tuch- und Wollstoffe der Trachtenröcke von der heimischen Textilindustrie.
Bei Mägden war es oft üblich, an Martini (11.11.) vom Bauern nicht nur die Auszahlung für das geleistete Arbeitsjahr zu bekommen, sondern auch Stoffe zur Tracht, so dass manche Magd sich nach Martini einen Rock nähen ließ.
In wirtschaftlich schlechten Jahren wie z.B. in den Nachkriegsjahren, als für die Bevölkerung Stoffknappheit herrschte, wurden Trachtenröcke „vertrennt“ und zu Frauen- und Kindermänteln bzw. -jacken umgefertigt. Viele Frauen stifteten einen Teil ihrer „reachten Röcke“, um für die Familie die strengen Winter erträglich zu machen.
 
Die Frauen achteten sehr auf ihre Röcke, man „schonte“ sie, wo es nur ging. Erstens hatte man kein Geld für Neuanschaffungen und außerdem wollte man seine Röcke noch an die eigenen Töchter weitervererben. Vor allem die „reachten Röcke“, die man nur zu besonderen kirchlichen oder festlichen Anlässen – oftmals nur wenige Male im Jahr – trug, wurden mit viel Sorgfalt behandelt. Ein großes Problem stellte das Sauberhalten der Röcke dar, sie konnten nämlich nicht gewaschen werden. Insbesondere an regnerischen Tagen, wenn die Straßen aufgeweicht waren, hoben die Frauen ihre Röcke leicht an, damit der Rocksaum nicht schmutzig wurde. Die „reachten Röcke“ wurden nach dem Tragen sofort ausgebürstet, gelüftet und danach mit der linken Seite an dem eigens dafür vorgesehenen Haken ordentlich im Schrank aufgehangen. Das „Schonen“ der Röcke zeigt sich vor allem im ständigen Umziehen der Bäuerinnen, vor allem an Sonn- und Feiertagen:
 
1. Morgens zur Stallarbeit zog man eine Werktagstracht an, um das Vieh zu füttern und auszumisten (im Gäu und Betzingen „Werdighäs“, auf der Alb „Stallhäs“ genannt). Man verwendete den ältesten vorhandenen Werktagsrock, der, nachdem er für die Haus-, Hof- und Feldarbeit gedient hatte, schließlich zur Stallarbeit getragen wurde. Das „Stallhäs“ wurde an einem speziellen Haken im Stall aufbewahrt, d.h. man kleidete sich im Stall um.
 
2. Danach wusch man sich und zog ein „reachtes Häs“ zum Kirchgang an (in Betzingen „Sonntighäs“, im Gäu „Gwand“ und auf der Alb „Kirchahäs“ genannt).
 
3. Danach zog man ein „Werdighäs“ zum Kochen und anschließenden Essen an.
 
4. Nach dem Essen zog man, falls man Verwandte in benachbarten Dörfern besuchte (wurde als „über Feld gehen“ bezeichnet), das „Sonntighäs“ an.
 
Bei Nachbarschafts- oder Krankenbesuchen im Ort gab es in allen drei Trachtengebieten unterschiedliche Verfahrensweisen: In Betzingen trug man eine heruntergesetzte Sonntagstracht, das sogenannte „Sonndichobedhäs“, auf der Alb wurde entweder eine heruntergesetzte Sonntagstracht oder ein leichterer extra für den Sonntagnachmittag angefertigter Rock getragen, in Oberndorf trug man ein speziell für den Sonntagnachmittag angefertigtes Häs.
Blieb man im Haus, trug man einen Sonntagsunterrock, der eigentlich unter einem „reachten“ Rock getragen wurde und den der Älbler als„Kutte“ bezeichnete.
 
5. Abends zog man wieder zum Vieh füttern und ausmisten das „Werdighäs“/ „Stallhäs“ an.
 
Bemerkenswert ist, dass die Frauen ihre Röcke niemals beliebig auswählten. Ihnen war bewusst, zu welchem Anlass sie welchen Rock zu tragen haben. Um in der „Dorfgemeinschaft“ akzeptiert zu werden, war ein Abweichen von den im Dorf üblichen Sitten und Gebräuchen nicht möglich. Wer nicht in Verruf kommen wollte, musste die Zusammenstellung und Trageweise der Tracht für den entsprechenden Anlass genauestens einhalten. Eine Albbäuerin erzählte, dass sie zum Kirchgang am Totensonntag, an welchem generell der schwarze Rock der Trauertracht getragen wurde, einen braun-schwarz-karierten Rock, der zum Abtrauern diente, angezogen hatte. Nach dem Kirchgang flüsterte ihr eine ältere trachttragende Bäuerin leicht rügend ins Ohr: „Nächscht Johr ziahscht aber wieder dr schwarze Rock a!“. Die damals junge Bäuerin schämte sich sehr und wagte sich nie mehr den sogenannten „Braunen Rock“ am Totensonntag anzuziehen. Daran erkennt man, dass die Trachtenträgerinnen in der Zusammenstellung ihres „Baurahäses“ nicht individuell entscheiden konnten, vielmehr achteten die Frauen untereinander darauf, dass man korrekt angezogen war.
 
Woher stammten diese von dem Volkskundler Albert Walzer als Wechselformen bezeichneten Trachten-Varianten für bestimmte Anlässe?
 
Katholische Gaeutracht

Katholische Gäutracht (Oberndorf bei Rottenburg a. N.):
Ledige trugen zu Festen einen schwarzen, dunkelblauen, grünen oder braunen leichten Wollrock, den „Jacken“ und die bei allen Bauerntrachten für Ledige übliche weiße Schürze.
 
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Zum einen war das Spektrum an Stoffen und Farben aufgrund der eingeschränkten Bezugsquellen eingegrenzt. Zum anderen hatten diejenigen, welche die Tracht anfertigten, nämlich Schneider und Näherinnen, großen Einfluss darauf, wie die einzelnen Trachtenteile angefertigt und zu welchen Anlässen sie angezogen wurden. Darüber hinaus wurden durch das Erben von Trachtenteilen bestimmte Sitten und Trageweisen der Tracht über Generationen beibehalten. Die Zusammenstellung der Tracht mussten die Bauernmädchen nicht lernen, sie wuchsen damit auf und zudem konnte die Mutter Antwort auf Fragen geben. Eine ausgesprochene Willkür beim Anziehen der Röcke bestand nicht, wie wir noch bei den örtlichen/regionalen Beschreibungen der Röcke sehen werden.
 
Unsere heutige Sicht, die von bequemer und individueller Kleidung geprägt ist, beurteilt das Trachttragen als keineswegs angenehm. Die Röcke waren schwer und im Hochsommer viel zu heiß. Zudem mangelte es für heutige Begriffe an der erforderlichen Hygiene, da die Röcke nicht gewaschen werden konnten. Für die trachttragenden Frauen tat dies ihrer Kleidung keinen Abbruch.
 
Für viele Bäuerinnen war es nicht vorstellbar, bürgerliche Modekleidung zu tragen. Zudem bedingt jede Kleidung auch ein gewisses Auftreten und Verhalten im Alltag. Die Bauernröcke hatten eine derartige Weite, dass man ohne weiteres sehr große Schritte machen konnte. Die leichteren bürgerlichen Röcke hatten diese Rockweite nicht und Zeitzeugen bestätigen, dass viele Bäuerinnen, die von „bäurisch“ auf „herrisch“ (Bezeichnung für die bürgerliche Mode auf der Schwäbischen Alb) wechselten, große Probleme beim Gehen hatten.
 
Das persönliche Umfeld entschied häufig darüber, die Tracht beizubehalten bzw. abzulegen. Eine Frau erzählte mir, dass ihre Mutter einmal die Tracht ablegen wollte, weil es der Vater wünschte, sich aber dann doch fürs „bäurische“ entschied, als die Tochter sie auf das völlig andere Tragegefühl hinwies.
 
Katholische Gaeutracht

Katholische Gäutracht (Oberndorf bei Rottenburg a. N.):
Verheirateten stand der „Bauschkittel“ zu, dessen modisches Vorbild aus der Biedermeiermode stammt. Der „Bauschkittel“ sowie die Schürze waren aus demselben Material (Woll- oder Seidensatin) und denselben Farben (schwarz, braun, grün, blau, rot oder violett). Der „Bauschkittel“ hat seinen Namen von der Wattierung am Ellenbogen, zu ihm wurde generell ein schwarzer Tuchrock getragen.
 
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Auch wirtschaftliche Gründe führten zum Ablegen der Tracht. Eine Albbäuerin wechselte in den 30-er Jahren von „bäurisch“ auf „herrisch“, weil sie modern sein wollte. Als in den Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs Stoffknappheit herrschte, entschied sie sich ihr abgelegtes „Baurahäs“ wieder anzuziehen.
 
Frauen, die von „bäurisch“ auf „herrisch“ wechselten, fühlten sich in vielen Fällen nicht wohl. Sie waren es gewohnt, im „Baurahäs“ zu gehen und genierten sich oft, wenn sie die Kleidung wechselten, da die Dorfbewohner sie darauf ansprachen.
 
Als wesentlichen Vorteil des Trachttragens galt das Wissen der Zusammenstellung für die jeweiligen Anlässe. Eine Bäuerin sagt: „Wo i no s’Baurahäs aghet han, do han i gwisst was i azieha muaß. Jetzt stand i voram volla Kleiderkaschta und frog mi, was duasch a!“.
 
Quellen:
  • Museum für Volkskultur in Württemberg, Kapitel: Ländliche Kleidungsstile in Württemberg

  • Erika Thiel: Geschichte des Kostüms

  • Krause/Lenning: Kleine Kostümkunde

  • Joachim Wachtel: Das große Bilderlexikon der Mode

  • Albert Walzer: Der Museumsfreund 16

  • Eigene Recherchen


Anschrift des Autors:
Stephan Zielke,
Adolf-Damaschke-Str. 110,
72770 Reutlingen,
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