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Anmerkungen zur Amateur- und Volksmusik in Baden-Württemberg

von Wulf Wager

Bei musikalisch bedeutsamen, gesellschaftlich relevanten Gelegenheiten brüsten sich Baden-Württembergs Politiker in der Öffentlichkeit gerne damit, ihr Land als das Musikland Nr. 1 in der Bundesrepublik darzustellen. Damit liegen sie nicht einmal so falsch. In der Tat hat kein anderes Land eine derart vielfältige und von so vielen Menschen ausgeübte und getragene Amateurmusikkultur wie das "Musterländle". Nirgends blasen, zupfen, streichen oder tasten mehr in Vereinen organisierte Menschen in, an oder auf einem Instrument, nirgendwo anders klingt es gemeinschaftlich vereint aus so vielen Kehlen wie im Lande der Württemberger, Badenern und Hohenzollern.
 
In allen Kulturen spielt instrumentale und vokale Musik eine große Rolle. Bei weltlichen und religiösen Festen kann kein Volk der Welt ohne Vokal- oder Instrumentalmusik auskommen. Musik begleitet uns in nahezu allen Lebenslagen und damit elementar. Kleinkinder beginnen sich unweigerlich zu bewegen, wenn harmonische oder rhythmische Musik erklingt. Niemand kann sich der emotionalen Wirkung von Musik entziehen. Sie fesselt, begeistert, führt in die Tiefen der Trauer und auf die Höhen der Freude. Doch wie selbstverständlich ist selbst gemachte Musik in einer Welt der konservierten, von elektronischen Maschinen wie CD-Playern, Fernsehern und Radios wiedergegebenen Playback-Musik? So selbstverständlich wie selbst gemachte Marmelade?

Ein Blick zurück ins frühe 19. Jahrhundert

Eine breit angelegte Laienmusikbewegung im Land beginnt sowohl bei der Blasmusik als auch im Sängerwesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Anfang im Bereich des Gesangs vollzieht sich hauptsächlich in den größeren Städten des württembergischen Kernlandes und war zunächst durchaus politisch motiviert. Die Ereignisse der ersten zwanzig Jahre des 19. Jahrhunderts (Wiener Kongress, Karlsbader Beschlüsse) führten zu einer weitgehenden Einschränkung des öffentlichen Lebens. Durch die Verschärfung der Zensur und durch die deutliche Ausweitung der Machtbefugnisse von Regierung und Polizei war es dem liberalen Bürgertum fast unmöglich, sich zu organisieren. Was blieb, war der Deckmantel eines scheinbar unpolitischen Gesangvereins, um im Schutze des Gesangs politisch zu diskutieren. Animiert von den Gesangvereinsgründungen durch die Komponisten und Musikpädagogen Carl-Friedrich Zelter in Berlin und durch Hans Georg Nägeli in Zürich, wurden 1818 in Heilbronn und 1822 in Rottenburg erste Sängergemeinschaften gegründet.

Singen ohne Standesschranken

Eine wichtige gesellschaftliche Komponente war der Anspruch der Sänger, jede soziale Abgrenzung untereinander zu unterbinden. Schon auf dem ersten Liederfest, das 1827 in Plochingen stattfand, proklamierte Karl Pfaff, der 1850 den Schwäbischen Sängerbund und wenige Jahre später den Deutschen Sängerbund gründete: "... und nieder sinken vor des Gesanges Macht der Stände lächerliche Schranken."
Die Gesangvereine waren im 19. Jahrhundert fast ausschließlich den Männern vorbehalten. Das hatte zweierlei Gründe. Zum einen propagierten Gesangspropheten wie der Schweizer Hans Georg Nägeli (der Komponist von "Freut Euch des Lebens") in seiner "Gesangsbildungslehre für den Männerchor" (1817) den reinen Männergesang, weil die "Lautirkraft" schärfer sei und der Text durch den Mund des Mannes eindringlicher wird, als durch den weiblichen...
Zum anderen war die Emanzipation noch nicht im Fluss, und selbst die Aufführung eines gemischten Chores gelang Anfang des 19. Jahrhunderts in Stuttgart nicht, denn der Frauenchor war schwer zusammenzubringen. Die Stuttgarter Fräulein sperrten sich vielfach!
Ein weiterer Fakt, der das Sängerwesen im 19. Jahrhundert beflügelte, war die Entdeckung des "Volkes" und seiner Kultur durch die Wissenschaft. Germanisten sammelten "alte" Volkslieder und Märchen. Auf den Forschungen der Brüder Grimm basierend entstand eine neue Wissenschaft: die Volkskunde.
Der aus Schnait im Remstal stammende Friedrich Silcher (*1789 + 1860), ein großer Verehrer Nägelis, sammelte Volkslieder, arrangierte sie für vierstimmigen Männerchor und schrieb auch neue, so genannte "Kunstlieder im Volkston". Noch heute werden seine Lieder wie das "Ännchen von Tharau" und "Durchs Wiesetal gang i jetzt na" stimmungsvoll von den kleiner werdenden Männerchören intoniert.
Als Schüler von Konradin Kreutzer wurde Silcher als Tübinger Universitätsmusikdirektor zum wichtigsten Volksmusikerzieher und Förderer des Laienchorwesens.
Rund 41% der Gesangvereinsgründungen fielen in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Nur 10% der heutigen Gesangvereine wurden nach 1945 gegründet. Heute sind rund 150.000 aktive Sängerinnen und Sänger im Schwäbischen Sängerbund, im Badischen Sängerbund, im Baden-Württembergischen Sängerbund sowie in Kammer- und Oratorienchören organisiert. Weitere rund 350.000 Mitglieder sind passiv und/oder fördernd. Hinzu kommen noch rund 150.000 Aktive in den evangelischen und katholischen Kirchenchören und Instrumentalgruppen.
Die Tendenz der Mitgliederzahlen weist allerdings nach unten. Obwohl sich die Verantwortlichen in den weltlichen und kirchlichen Bereichen redlich mühen, neue, moderne Formen der Vokalmusik zu etablieren, sind die Chöre stark überaltert. Es fehlt an jugendlichem und mittelalterlichem Nachwuchs. Allerdings sind die Kinder- und Jugendchöre stark frequentiert. Gut ausgebildete, junge Chorleiter verstehen es, auch junge Menschen für den Gesang zu gewinnen.

Das Ventil beflügelt die Blasmusik

Mit der Entwicklung, Konstruktion und Einführung der Ventile für Blechblasinstrumente am Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der technischen Vervollkommnung der Holzblasinstrumente sowie mit der schon längst überfälligen Konstruktion eines tiefen Blech-Bassinstruments, der Tuba, erlebte die Blasmusik einen wahren Siegeszug. Die Musikkapellen und kleinen Ensembles explodierten geradezu in ihrer Anzahl. Dank des neuen Instrumentariums war es nun möglich, die gesamte Chromatik zu nutzen und ein breit gefächertes Repertoire zu spielen. Nicht selten wurden ländliche und städtische Kapellen durch ausgebildete Militärmusiker angeleitet. Dabei wurden auch etliche Rituale aus dem Militär übernommen, die sich bis heute gehalten haben; die Musikeruniform und das Marschieren in Formation zum Beispiel.
Die Musikanten mussten sich bei der Ausübung ihrer Kunst an strenge, von der Obrigkeit aufgestellte Regeln halten. Diese Regeln dienten der Sicherung von Pfründen. Schließlich musizierten die Musicanti bei Hochzeiten, Kirchweihen etc. nicht unentgeltlich sondern gegen Honorar.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lockerten sich die Bestimmungen.

Ohne Geld keine Musik

Militärmusiker spielten in kleinen Gruppen auf Hochzeiten und zum Tanz auf. Dadurch entstand ein starker Konkurrenzkampf zwischen zivilen Kapellen und den Militärmusikern. Nach dem Ersten Weltkrieg waren durch den Verlust der Wehrhoheit von den ursprünglich 560 Militärmusikkapellen im Deutschen Reich mit 15.700 Musikern noch 140 Kapellen mit 3.600 Musikern übrig geblieben. Der Rest wurde, soweit nicht im Krieg gefallen, entlassen. Damit stand dem Laienmusikbereich ein unglaubliches Potential an gut ausgebildeten Musikern zur Verfügung. Diese Musiker sind für die stattliche Anzahl neu gegründeter Musikkapellen in den 1920er Jahren verantwortlich.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war kaum ein Ort im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg ohne Blaskapelle, wenn auch mit wesentlich kleinerer Besetzung als heute.
In den letzten fünfzig Jahren hat die Blasmusik in Baden und in Württemberg einen enormen Qualitätsschub erfahren. Durch eine strenge Ausbildungsordnung, durch Wertungsspiele und eine qualifizierte Ausbildung vor allem der Bläserjugend, der Dirigenten und Registerführer wurde die Virtuosität des einzelnen Musikers und der Gemeinschaftsklang der Orchester auf ein ungeahnt hohes Niveau gebracht.
Auch das Repertoire der baden-württembergischen Blaskapellen hat sich stark verändert. Dominierten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg noch Märsche und Operettenmelodien in den Kapellen, so sind es heute moderne Musical- und Popsonginterpretationen sowie symphonische Blasmusik, die von den Verbänden stark gefördert werden. Amerikanische und niederländische Komponisten und Verlage beherrschen den Markt. Auf der einen Seite wollen die Blasmusiker weg vom "Humtata"-Image, auf der anderen Seite kleiden sich aber immer mehr Blasmusikvereine in überlieferte Trachten. Eine Diskrepanz? Ein Stilbruch? Diese Frage mag der geneigte Leser bitteschön für sich selbst beantworten.

Tasten, Knöpfe und ein Balg

Noch in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das Akkordeon eines der beliebtesten Instrumente schlechthin. Heute ist sein Stellenwert vom elektronischen Keyboard, der Multifunktionsmaschine mit dem schnellen Erfolg, längst verdrängt. Das hat auch das Mutterhaus des Akkordeonbaus, die Trossinger Matth. Hohner AG, wirtschaftlich zu spüren bekommen. Dabei waren es gerade Matthias Hohner und seine Firma, die den Erfolg dieses Instruments maßgeblich vorantrieben. Mitte des 19. Jahrhunderts gründete der Uhrmacher Matthias Hohner eine Harmonikamacherei, die Mundharmonikas und später dann deren große Brüder, die Harmonika und das Akkordeon, herstellte. Um 1900 produzierte Hohner bereits mehr als drei Millionen der preisgünstigen Mundharmonikas und betrieb einen schwunghaften Export der Instrumente nach Amerika. Schon 1950, fünf Jahre nach Kriegsende, produzierte Hohner bereits wieder neun Millionen Mundharmonikas. Heute spielt kaum mehr jemand das Instrument. Hohner hat in den 1970er Jahren den Anschluss an die elektronische Instrumentenproduktion verpasst und kann seither an seine einstigen Glanzzeiten nicht mehr anschließen.
Für das Akkordeon warben in den 1950er Jahren Hans Albers und Conny Froboess auf Anzeigen. Akkordeonstars wie Hermann Schittenhelm waren Leitfiguren der Akkordeonspieler und -orchester. Das Instrument war deshalb so beliebt, weil es alle Funktionen eines Tanzorchesters übernehmen konnte. Auf der Diskantseite konnte man mehrstimmige Melodien spielen, und die Bassseite diente Grundbass und Nachschlag. Ein Akkordeon, ein Kontrabass und ein Schlagzeug waren in den 1950er und 60er Jahren bereits ein respektables Tanzorchester. Doch dann kamen die elektronischen Instrumente auf und verdrängten das Akkordeon. Heute sind im Land rund 670 Orchester der Akkordeonmusik verpflichtet. 80 bis 90 % davon sind Jugendliche unter 25 Jahren.

Von den Zupfern im Lande

Gemessen am Alter der Gitarren-, Zither- und Mandolinenmusik gleicht die innovative Bewegung der letzten dreißig Jahre einem Tropfen in einem Wasserfass. Trotzdem, die Zupfer im Lande haben sich inhaltlich völlig neu orientiert. Waren es bis vor Jahrzehnten noch vornehmlich Volksmusik, volkstümliche Musik sowie alte Meister, die auf diesen Saiteninstrumenten solistisch oder im Ensemblespiel intoniert wurden, so widmen sich die Ausbilder in den Verbänden heute verstärkt auch der zeitgenössischen Zupfmusik, konzertanter Folklore, dem Neobarock, der Spätromantik und dem Impressionismus. Rund 20 Zupforchester, Gitarrenchöre, Mandolinengruppen und Zitherensembles greifen in Baden-Württemberg in die Saiten.

Kommerzielle und Traditionalisten

Der Begriff der "Volksmusik" sorgt für allerhand Verwirrung. Deshalb ist eine Differenzierung der darunter vereinigten Musikrichtungen sinnvoll.
In Fernsehen und Radio dominiert eine Musikrichtung in einer nie da gewesenen Penetranz. Sie setzt in den CD-Verkäufen mehr um als das gesamte Klassik- und Popgenre zusammen. Es ist die "Volksmusik", oder besser charakterisiert, die "volkstümliche Schlagermusik". Sie hat mit der "traditionellen Volksmusik" nur wenig gemein und ist ausschließlich kommerziell ausgerichtet. Schallplattenkonzerne steuern mit immer wiederkehrenden klischeeüberladenen Inhalten und einfachsten Melodiestrukturen ganz bewusst den Medieneinsatz mit dem obersten Ziel der Gewinnmaximierung. Mit Kultur oder Volkskultur hat das nichts zu tun.
Volksmusik im ursprünglichen Sinne ist die tradierte, für bestimmte Regionalkulturen charakteristische Instrumental- und Vokalmusik. Ihre Kennzeichen sind die bündige Form, der schlichte Bau und die in der Kunstmusik wenig gebräuchlichen, einfachen Instrumente wie Dudelsack, Hackbrett und Maultrommel. Im Volksbrauch finden oft noch einfachere Instrumente wie Klappern, Rasseln und Glocken Verwendung. Gerade im letzteren Bereich ist die Überlieferungskette nie abgerissen, während sie im instrumentalen und vokalen Bereich nahezu völlig abgegangen ist.
Wo etwas vom Aussterben bedroht ist, sind natürlich sofort Retter da, die sich dem Sterbenden mehr oder weniger erfolgreich widmen. Eine traditionelle Volksmusik auf breiter Ebene wieder bekannt zu machen und zu etablieren, gar eine "Renaissance der Volksmusik" zu erwirken, hat sich der Arbeitskreis Volksmusik im Landesmusikrat Baden-Württemberg vor etwa 20 Jahren auf die Fahne geschrieben. Eine kleine Anzahl von Begeisterten forscht nach den letzten Resten der traditionellen schwäbisch-alemannischen Volksmusik, veröffentlicht Noteneditionen und veranstaltet Lehrgänge und Wettbewerbe. Rund 150 kleine Ensembles von der Sackpfeifengruppe über die Stubenmusik, von der Streichmusik bis hin zu den kleinen Blechblas-Tanzbodenmusikgruppen, wie sie noch am Ende des 19. Jahrhunderts allerorten in Baden, in der Kurpfalz, in Hohenlohe, in Württemberg und in Oberschwaben zu Hause waren, existieren mittlerweile wieder im Land. Sie sind, wenn überhaupt, vornehmlich in Heimat- und Trachtenverbänden organisiert. Alljährlich treffen sich die Gruppen beim Volksmusiktag Baden-Württemberg am ersten Septemberwochenende im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck.
Instrumentenbauer haben sich wieder alten Instrumenten wie Sackpfeife und Hackbrett zugewandt, so dass auch daran kein Mangel mehr herrscht. Gerade die Förderung des Hackbretts liegt dem Arbeitskreis am Herzen. Die Arbeit in diesem Bereich führte vor einigen Jahren zur Gründung des Landes-Hackbrett-Bundes Baden-Württemberg und zur Ausbildung von Hackbrettlehrern und der Etablierung des Instruments an einigen Musikschulen.
Außerhalb der Volksmusikrenaissance steht das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg, das 1914 gegründet, die zentrale Sammelstelle für deutsche Volksliedforschung ist. Das Archiv ist vornehmlich damit beschäftigt, die Sammlung zu verwalten, ohne Impulse auf die Volksmusikpflege zu geben.

Musik im Alltag

Die gesamte Bevölkerung, vom Wickelkind bis zum Greis, ist permanent mit Musik in höchster technischer Qualität konfrontiert und ihr passiv ausgesetzt, und Töne begleiten, untermalen oder stimulieren das Fernsehen, Radio hören oder Einkaufen.
Morgens weckt der Radiowecker aus süßen Träumen. In der Dusche geht die Musikberieselung mittels eines wasserfesten Radios weiter. Beim Frühstück dudelt das Radio. Auf dem Weg zur Arbeit legt man eine CD ein, beim abendlichen Joggen begleitet der Walkmann die schweißtreibende Freizeitbeschäftigung. Zur Entspannung sieht man abends fern, um sich anschließend mit der Schlummertaste des Radioweckers wieder ins Reich der Träume zu begeben.
Niemals in der Geschichte der Menschheit war passive Musik so permanent verfügbar wie heute. Nie war der Zugang zu perfekt gespielter oder gesungener Musik so leicht. Das kann natürlich nicht ohne Folgen für die aktiv ausgeübte Musik bleiben. Wird deshalb im privaten Bereich weniger gesungen, weniger musiziert, als noch vor der haushaltsdeckenden Verbreitung des Radios und Fernsehgerätes? Ganz sicher. Im familiären Bereich wird kaum mehr gesungen. Selbst zu Weihnachten legt man, wenn sich der traute Familienkreis um den Christbaum versammelt, lieber die CD der Wiener Sängerknaben ein, als selbst ein paar Weihnachtslieder zu singen. Erstens traut man sich nicht, weil man ständig von perfekt inszenierter Musik umgeben ist, und zweitens kann man’s ob der verlustig gegangenen Übung nicht mehr. Allenfalls Kinder zeigen im Lichterglanz mehr oder weniger gezwungen ihre Fortschritte auf der Blockflöte oder dem Keyboard.
Das Singen steht längst nicht mehr im Mittelpunkt gemeinschaftlichen Zusammenseins. Gegenüber den Traditionen früherer Generationen ist dieser selbstverständliche Umgang mit Musik in den Familien stark zurückgegangen. Die technischen Medien vermitteln meist ein wenig natürliches Bild stimmlicher Ausdrucksfähigkeit von Kindern und Jugendlichen.
Untersuchungen zum Musikatlas Baden-Württemberg ergaben, dass 82% der baden-württembergischen Bevölkerung regelmäßig Radio hört, wobei Musiksendungen ausschlaggebend für die Auswahl des Programms sind. 70% der Bevölkerung hört gezielt täglich mehr als eine Stunde Musik. Dagegen ist nur rund ein Drittel der Bevölkerung Mitglied in einem musiktreibenden Verein, lernt oder lernte ein Instrument oder ist sogar im Bereich Musik berufstätig. 8,5% der Bevölkerung, rund 780.000 aktive Musiker, Sänger beiderlei Geschlechts oder Musikschüler bilden die den Kern des Musiklebens.2
Nicht zu unterschätzen ist die Wirtschaftsmacht der Musik in der Bundesrepublik. Ca. 2.500 Millionen Euro werden jährlich in den verschiedensten Sparten der Musikwirtschaft umgesetzt: von den Musikverlagen und der Schallplattenindustrie über die Musikschulen, Instrumentenbauer bis hin zu Tonstudios und dem Handel mit elektroakustischen Geräten. 30.000 Beschäftigte zählen diese Bereiche.

Regionale Unterschiede

Die Bedeutung der instrumentalen wie vokalen Laienmusikvereine für die musikalische Betätigung vor allem in den ländlichen Gebieten mit vorwiegend kleinen Gemeinden wird durch die Größe des entsprechenden Bevölkerungsanteils offensichtlich. In dünn besiedelten Gebieten wie dem Main-Tauber-Kreis, den Landkreisen Sigmaringen, Biberach u.a. ist der prozentuale Anteil der aktiven Mitglieder von Amateurmusikvereinen am höchsten, in den Städten und städtischen Ballungszentren am niedrigsten. Zwar ist in den Städten der Anteil der Musikschüler und privat Musizierende größer, doch insgesamt ist der Grad der aktiven Musikausübung in ausgesprochen ländlichen Gebieten heute stärker als in den städtischen Gebieten.
Während die Aktiven der instrumentalen Musik im Süden und Südwesten des Landes ihren eindeutigen Schwerpunkt haben, sind die vokalen Laienmusikvereine im Norden wesentlich stärker vertreten.
Ein Grund mag sein, dass die Blasmusik im Süden als Ergänzung zur katholischen Kirchenmusik dient, während im evangelischen Gottesdienst die Posaunenchöre eine mehr als hundertjährige Tradition haben.

Amateurmusik in Radio und Fernsehen

Rund ein Drittel der baden-württembergischen Bevölkerung befasst sich in seiner Freizeit – oft an erster Stelle – mit Musik. Trotzdem findet der Bereich Freizeit-, Amateur- oder auch Laienmusik im öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen bis auf wenige löbliche Ausnahmen nicht statt. Die Verantwortlichen des Landessenders SWR räumen dem gesamten Bereich der Amateurmusik zugunsten der künstlich hochgezüchteten und musikalisch eher platten Produkte der Musikindustrie kaum Sendezeiten ein. Jede Welle hat eine eigene, zielgruppengerechte Musikfarbe, die möglichst hohe Quotenanteile bringen soll. Dieses Streben steht vor der kulturellen Versorgung und Bestätigung der Bevölkerung. Die Spiegelung der ungemein reichen Musikkultur in allen Facetten der Freizeit- und Amateurbereiche bleibt bis auf einige wenige Vorzeigeprojekte außen vor. So hat die Fernseh-Redaktion "Regionale Unterhaltung" zu den ersten beiden von den Laienmusikverbänden Baden-Württembergs veranstalteten "Tagen der Laienmusik" 1999 in Schwäbisch Gmünd und 2000 in Müllheim einen Ausschnitt aus der Spitzengruppe der verschiedenen Stilrichtungen in einer zwei-, bzw. einstündigen Live-Aufzeichnung ausgestrahlt. Die geringen Bemühungen in dieser Richtung, wurden aufgrund schlechter Sendeplätze von den Zuschauern kaum beachtet und infolge niedriger Einschaltquoten wieder abgesetzt. Erfolgreicher war über vier Jahre die halbstündige Sendung "Abendmelodie", die 40 mal im Jahr Amateurmusiker aus den verschiedenen Regionen Baden-Württembergs präsentierte.
Auch im Radioprogramm SWR 4 Baden-Württemberg gibt es einige wenige Fenster für die Amateurmusik. Bei den privaten Sendern wie B.TV und den regionalen Radiosendern stellt sich die Situation ähnlich dar. Auch hier reduziert sich der Einsatz von Amateurmusikern komplett auf den Bereich der "volkstümlichen Musik".
Welche Verschwendung von Qualität. In keinem anderen Bundesland gibt es einen derart hohen Leistungsstandard in der Ausbildung junger Musiker. Regelmäßig räumen die Baden-Württemberger bei den Bundeswettbewerben "Jugend musiziert" erste Preise ab. Zwischen 25 und 30 Prozent der Gewinner kommen aus dem Ländle. Diese qualitativ hoch stehende Ausbildung brachte Künstler hervor wie Anne-Sophie Mutter.

Ausbildung der Amateurmusiker

Dem aktiven Amateurmusiker steht ein reichhaltiges Ausbildungs- und Förderungsprogramm zur Verfügung. Allerdings ist der Begriff Amateurmusiker hier mit Vorsicht anzuwenden, bildet doch gerade die musikalische Grundausbildung das Fundament für eine spätere professionelle Musikerlaufbahn.
Beginnend bei der musikalischen Früherziehung über die Instrumentenausbildung in Musikschulen und Musikvereinen, die hier oft miteinander kooperieren, über das Ausbildungsprogramm der Musikvereine, Sängerbünde und kirchlichen Bereiche bis hin zu den musischen Aufbaugymnasien, den Akademien der Verbände und den Musikhochschulen reicht das Spektrum der hoch qualifizierten Musikausbildung im Land.
Ein besonderer Edelstein des baden-württembergischen Musikwesens ist die Landesakademie für die musizierende Jugend im ehemaligen Benediktinerkloster Ochsenhausen. Sie bietet geradezu ideale Verhältnisse für Lehrgänge, Workshops, Probenphasen und Kurse der Landesensembles und aller anderer musikalischer Gruppierungen vom Jazz über die Volksmusik bis hin zur Klassik. Eine umfassende Bibliothek, ein großes Leih-Instrumentarium, Übungs- und Konzerträume und nicht zuletzt eine hervorragende Küche schaffen beste Voraussetzungen für konzentriertes Arbeiten in einer entspannten Atmosphäre, losgelöst vom Alltag. Nicht nur viele Sänger und Instrumentalisten nutzen dieses Angebot gerne, auch Größen des internationalen Musikbetriebs fungieren hier gerne als Lehrmeister.
Die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen ist das Fortbildungsinstitut bundeszentraler Verbände der außerschulischen Musikerziehung und Musikpflege. Sie betreibt bundesweit Fortbildung in verschiedenen musikalischen Bereichen und berufsbegleitende Weiterbildung in Kooperation mit Verbänden und Hochschulen als besondere Möglichkeit zur Qualifikation mit Abschlusszertifikat für eine Tätigkeit in der musikalischen Jugendbildung. Künstler erfahren hier eine pädagogische, Pädagogen eine künstlerische Fortbildung.
Jeder Verband in der Laienmusik verfolgt eigenständige Ausbildungsziele. Sämtliche Musikorganisationen, Amateure wie Profis, sind im Landesmusikrat Baden-Württemberg zusammengeschlossen. Diese Dachorganisation will in allen Bereichen der Musik durch Planung, Beratung und Koordination und eine Vielfalt eigener Maßnahmen und Aktivitäten auf die öffentliche Meinung, die Erziehung und die Gesetzgebung in Baden-Württemberg einwirken, um die gesellschaftliche Stellung der Musik zu stärken und für die Weiterentwicklung der Musikkultur Sorge zu tragen.
Um diese Ziele zu erreichen, unterhält der Landesmusikrat zentrale Ensembles wie den Landesjugendchor, die Junge Phiharmonie, das Jugendjazzorchester, das Jugendzupforchester, das Sinfonische Jugendblasorchester, das Akkordeon-Landesjugendorchester, das Jugendgitarrenorchester, das Deutsch-Französische Kammerorchester und den Landesjugendgospelchor. Darüber hinaus organisiert der Landesmusikrat Kurse von "Jugend komponiert" bis zu Interpretationskursen für Streichkammermusik.

Gesellschaftliche Bedeutung des Musizierens

Die Bedeutung der Vereine für die dörfliche und städtische Gemeinschaft hervorzuheben kann durchaus vernachlässigt werden, weil sie allgemein bekannt und anerkannt ist. Die Stellung der Musikvereine und Chöre im Gemeinschaftsleben ist ungleich höher, da sie bei nahezu allen Festaktivitäten in Erscheinung treten und das von der Bevölkerung erwartet und gewünscht wird. Kein Karnevals- oder Fasnetsumzug ohne Musikkapelle, kein Patrozinium ohne Kirchenchor, kein Weihnachtsgottesdienst ohne Posaunenchor, kein Stadtempfang ohne Streichquartett – die Anlässe für die Präsentation von Amateurmusik im sozialen Leben sind vielfältig. Hinzu kommt der gesamte gesellschaftlich relevante außermusikalische Bereich von der Papiersammlung bis zur Ausrichtung und Bewirtschaftung von Dorffesten und Stadtteilhocketsen.
Nicht zu verachten ist auch die Bedeutung der Musik auf die Persönlichkeit des Individuums. Musizierende Kinder sind nachweislich intelligenter und ausgeglichener als nichtmusizierende Kinder - ein interessanter Ansatz für die Schulmusik. Bedauerlich ist nur, dass Musik neben Sport das Fach mit den meisten ausgefallenen Unterrichtsstunden ist. Und nicht zuletzt trägt Musizieren auch zur Humanisierung unseres Lebens bei.
Der Landesmusikrat will mit seinen Aktivitäten dazu beitragen, den Stellenwert der Musik weiter zu verbessern und den Bereich schulischen, beruflichen und privaten Musizierens in allen seinen Formen und Bereichen als zweite starke Säule neben dem Sport in Baden-Württemberg zu etablieren. Die Kommunikation der einzelnen Verbände in den unterschiedlichen instrumentalen und vokalen Bereichen und die übergreifende Zusammenarbeit trägt dazu bei, diesen Gedanken zu manifestieren.
In Baden-Württemberg hat sich der Begriff "Laienmusik" für den gesamten Bereich der nichtprofessionellen Musik eingebürgert. Viele Musiker halten diesen Begriff für nicht angebracht, assoziiert man mit "Laie" doch eine gewisse qualitätslose Ausübung der Kunst. Dies kann man den baden-württembergischen Musikern und Sängern, die Musik nicht beruflich ausüben, nun wahrlich nicht nachsagen.
Baden-Württemberg ist das Musikland Nr. 1 in der Bundesrepublik und das nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ. Wünschen wir uns und allen Musici, dass es auch in Zukunft so bleiben mag, dass sich Baden-Württembergs Politiker weiterhin ihres Musikandes rühmen können.

Anmerkungen

1 Georg Günther, Politisch’ Lied – kein garstig Lied, in: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 1994, S.39f, Stuttgart 1994
2 Thomas-Alexander Troge, Musikatlas Baden-Württemberg, Schriftenreihe des Landesmusikrates Baden-Württemberg, Karlsruhe 1985

Literatur

Thomas-Alexander Troge: Musikatlas Baden-Württemberg, Karlsruhe 1985
Compendium für die musikalische Zusammenarbeit, Ausgabe 2000, herausgegeben vom Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit den Laienmusikverbänden Baden-Württembergs, Stuttgart 2000
Wolfgang Suppan: Blasmusik in Baden. Geschichte und Gegenwart einer traditionsreichen Blasmusiklandschaft, Freiburg i.Br. 1983
Heribert Allen: Chorwesen in Deutschland. Statistik, Entwicklung, Bedeutung, Viersen 1995
Matthias Henke: Das große Buch der Zupforcheste, München 1993



 
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