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Geneigter Leser


 
statt eines normalen „Standpunktes“ veröffentlichen wir in dieser Ausgabe den Festvortrag von Wulf Wager zum 25-jährigen Jubiläum des Niedersächsichen Landestrachtenverbandes im Oktober 2004 in Zeven:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Festgäste,

Sie empfangen mich mit einem Beifall und wissen doch nicht, was sie tun, denn ich bin nicht aus eigenem Antrieb hier, sondern auf Bitte von Erwin Luttmann, der meinte, ich könne Ihnen wichtige Dinge erzählen. Ich muss dazusetzen, dass es viel Würdigere und Berufenere hier in diesem Kreise gäbe, die zu Ihnen sprechen könnten, denn ich bin ja kein Niedersachse sondern Baden-Württemberger, oder genauer gesagt, Schwabe und Sie wissen ja „Wir können alles. Außer Hochdeutsch!“ Trotzdem hoffe ich, mich Ihnen verständlich machen zu können.

Als Redaktionsleiter der Zeitschrift „Der Heimatpfleger“ befasse ich mich seit Jahren mit den Themen Tracht und Volkstanz. Mein Blick kommt hier nicht von außen, sondern ich trage bewusst Tracht und ich tanze und musiziere die traditionellen Tänze meiner Heimat. Doch hin und wieder sollte man sich neben sich stellen und sein eigenes Tun von außen kritisch betrachten. Das tue ich von Zeit zu Zeit und veröffentliche dann auch mal Anmerkungen zu Volkstanz und Tracht und vor allem zur Pflege von beidem. „Das kann uns auch nicht schaden“ meinte Erwin Luttmann und nun stehe ich hier und darf Sie mit meinen Gedanken zu Volkstanz und Tracht im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne konfrontieren. Vorsorglich habe ich gebeten, Tomaten und ähnliches werfbare Gemüse unter Verschluss zu halten, damit meine Tracht nicht zu Schaden kommt. Nehmen Sie meine Gedanken als Anregung zu eigenen Gedanken, zum gelegentlichen Hinterfragen des eigenen Tuns und vielleicht zur Neupositionierung. Noch ein Wort voraus. All meine Aussagen sind Allgemeinplätze und können in bestimmten Regionen zeitlich differente Entwicklungen genommen haben.

Unsere Welt ist kleiner und in der Kommunikation schneller geworden. Nimmt man als Tempoäquivalent der heutigen Zeit einen Düsenjet, der in Überschallgeschwindigkeit rast, so entsprach das Tempo der Neuigkeitenübermittlung Anfang des 19. Jahrhunderts noch dem einer Schnecke.
Per Mouseclick sind wir mit unseren Computern in Sekundenschnelle mit Papua Neuguinea, Tokio und New York verbunden. Wenn wir wollen, können wir uns über das TV-Gerät die ganze Welt mit all ihren faszinierenden Eindrücken, ihren Eigenarten und Bräuchen in das Wohnzimmer holen. Unter Sendungstiteln wie „Länder, Menschen, Abenteuer“ präsentieren uns Journalisten die letzten Mohikaner dieser Welt mit ihren bunten Kleidern und ihren scheinbar verwunderlichen Bräuchen. Unweigerlich gerät man ins Grübeln und beginnt sich zu fragen: Was sind denn unsere Bräuche, unsere Trachten? Wir kennen doch seit dem Kulturbruch den die Ideologen des Dritten Reiches mit ihrem Missbrauch von Brauch und Tracht, Heimat und Bodenhaftung verursacht haben, nur noch die Moderne, den steigenden Wohlstand und das Wirtschaftswachstum. Was also gibt uns Identität, Verankerung, Verwurzelung?

Je näher die Nationen zusammenrücken, je mehr wir uns einer Welteinheitskultur mit ein und denselben Liedern, Kleidern und Werten nähern, desto größer wird die Sehnsucht nach dem, was lange mit dem vielfach missbrauchten und schwer definierbaren Wort „Heimat“ bezeichnet wurde. Um dem Begriff wieder eine gewisse ideologische Neutralität zu verschaffen, verzichte ich in meinem kleinen Vortag weiterhin auf ihn und verwende statt dessen die Bezeichnung „regionale Identität“. Ich weiß, dass es das nicht ganz trifft, aber die ideologische Vergewaltigung des Begriffes Heimat durch die Nazis, die Heimatfilmwelle der 50er und 60er Jahre sowie durch die immer noch boomende Heimat-Musik-Industrie mit den Mariannes und Michaels dieser Welt in Fernsehen und Radio wiegt zu schwer, um ihn vorurteilsfrei anwenden zu können.
Was die Menschen also seit rund 25 Jahren bewegt, ist der Verlust an Bodenhaftung, an Erdung, der Verlust der regionalen Identität durch die Globalisierung mit all ihren kulturellen Folgen. Just in dieser Zeit, nämlich vor 25 Jahren wurde ihr Verband gegründet und hat sich bis heute zu einem respektablen Mitgliederstand von rund 150 Mitgliedsgruppen gemausert. Ich gratuliere Ihnen zu diesem wichtigen Geburtstag. Und ich gratulieren Ihnen zu einem aktiven und vor allem im Trachtenforschungsbereich vorbildlichen Verband.

Die Rückbesinnung auf eine scheinbar heile Welt unserer Vorfahren ist also „in“. Oder sagen wir modern Mega-in! Wir interessieren uns dafür, wie die Urgroßmutter gekocht und gewaschen hat, oder wie der Urgroßvater einst die Ernte eingefahren hat. Alter Hausrat wird gesammelt, Handwerkertage füllen die Freilichtmuseen mit tausenden Besuchern. Volkstanzgruppen in „historischen Trachten“ führen alte Tänze vor. Trachtengruppen paradieren bei Landesfesten wie dem Niedersachsentag vor der Regierung. Adäquates gibt es in anderen Bundesländern ebenfalls, man denke nur an die Heimattage Baden-Württemberg, den Hessentag oder den Brandenburgtag. Hunderttausende verfolgen das bunte Treiben in den dritten Fernsehprogrammen, die schnell auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind und mit erfolgreichen Quoten bestätigt wurden.

Wir befinden uns also gerade in einer neuen „Heimatwelle“. Wir fokussieren uns auf Teile der regionalen Geschichte. Nur ist unser Blick getrübt. Wir sehen die Vergangenheit in einem idealisierten Zustand. Wir sprechen von der „guten alten Zeit“. Sicher, manches war schon gut und vielleicht auch schöner als heute, aber vieles war eben auch schlecht und hat sich aus gutem Grund überlebt. Um meinen Vortrag zu Anfang des 19. Jahrhunderts halten zu können, hätte ich eine mehrwöchige Reise durch viele kleinere und größere Fürstentümer mit unterschiedlichem Geld und unterschiedlichen Gesetzen auf mich nehmen müssen. Es ist also nicht alles Gold was glänzt. Ganz zu schweigen von den Lebensumständen der niederen Schichten, der sozialen Absicherung, der Gesundheitsversorgung und, und, und ...

Wir picken uns also einen ästhetischen Teil der Geschichte heraus und ahmen ihn nach. Denn zum Ende des 19. Jahrhunderts hin stellten fast zeitgleich an verschiedenen Stellen in Deutschland heimatbewusste Männer fest, dass ein Überleben der Tracht nur noch durch die Gründung von Volkstrachtenerhaltungsvereinen möglich sein würde. Dieses Phänomen stellte sich zeitgleich in Oberbayern, im Schwarzwald und etwa in Scheeßel ein, wo 1904 das erste Volkstrachtenfest mit der Gründung des Heimatvereins verbunden war.

Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts begann das, was wir heute als Volkstracht bezeichnen, zu verschwinden. Über Jahrhunderte waren das Tragen von Kleidung, die wir heute Tracht nennen und das Tanzen von Tänzen, die wir heute Volkstänze nennen, einem strengen Reglement durch die Obrigkeit unterworfen. Öffentliche Tänze mussten von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit genehmigt werden, schließlich vermutete man die Unmoral auf den Tanzböden.
Damit die Zugehörigkeit zu den feudalen Schichtensystemen deutlich erkennbar war, erließen die deutschen Fürsten regional gültige Kleiderordnungen, die bestimmten Ständen bestimmte Stoffe und Zierrat verboten oder zuwiesen. So heißt es beispielsweise in der Reichspolizeiordnung von 1577: „Jeder kleide sich so, dass sein Stand und Herkommen an der Kleidung erkennbar ist. Der Geldaufwand halte sich in Grenzen, damit genügend Geld für die notwendigen Lebensmittel vorhanden ist. Bei Nichtbeachtung der Vorschriften wird eine Geldstrafe erhoben.“ Der württembergische Herzog Eberhard Ludwig erließ 1712 eine „Polizeyordnung“ in der es heißt: „Die neunte Claß begreift in sich die gemeine Bauersleuth, welche keine Tücher, wo die Ehl über 12 Batzen kommte tragen sollen. Allerhand schelchte und gering Zeug. Schürz von weiß und schwarzer Leinwand, jedoch von geringem Wert“.

Ausgelöst durch die Aufklärung, mit der beginnenden Industrialisierung und der Französischen Revolution, setzt zum Ende des 18. Jahrhunderts der langsame Verfall der Wirkung der Kleiderordnungen ein. Mit den Idealen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und deren Durchsetzung wurden die politischen Verhältnisse in Europa völlig durcheinander gewirbelt. Kein Teritorialherr konnte jetzt noch seine Untertanen mit Kleidervorschriften gängeln. Die persönliche Lebenswelt der Menschen war von deutlich mehr Freiheiten geprägt. Von da an richtete sich das Kleidungsverhalten nach anderen Kriterien: beispielsweise nach dem Geldbeutel, dem Marktangebot, der jeweiligen Mode und dem Erneuerungsbedürfnis an Kleidern. Der Zylinder, der als Symbol für das Freidenkertum steht, ersetzt in manchen Gegenden den barocken Dreispitz. Auch in die Scheeßeler Männertracht zieht er damals ein, als sogenannter Winkelmann. Doch auch diese behutsame Erneuerung der Tracht, sozusagen aus sich selbst heraus, ändert nichts daran, dass die Scheeßeler Männertracht ab 1860 nicht mehr getragen wurde. Ähnlich ist es in anderen Gegenden. Erstaunlicherweise hielten die Frauen weitaus länger an der Tracht, oder an Trachtenteilen fest. In ganz wenigen Gegenden gibt es sogar bis zum heutigen Tag noch Frauen, die täglich Tracht tragen. Aber wie lange noch?

Mit dem Abgang der Kleiderordnungen geschah nun etwas sehr Interessantes. Bestimmte schmückende Kleidungsteile erfuhren wundersame Vergrößerungen, weil die Träger erkannten, dass sich dies zum Markenzeichen einer Tracht entwickeln konnte. Also auch zur Abgrenzung gegenüber anderen Dörfern und Kirchspielen mit ähnlichen Trachten. So wuchsen beispielsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wollrosen auf dem berühmten Schwarzwälder Bollenhut um das Dreifache ihrer Größe. Noch heute wird der Bollenhut als Markenzeichen für den ganzen Schwarzwald verwandt. Dieses Aufblähen von Trachtenteilen kennen wir auch von der Bückeburger Tracht, wo die Haubenschleife auf stolze 70 cm anwuchs. Noch hat sich die Tracht wie in den Jahrhunderten zuvor in sich selbst weiterentwickelt. Allerdings hat sowohl die Trachtenpflege, als auch die Volkstanzpflege die Trachten und Volkstänze dann in einer Endform zum Erstarren gebracht. Eine abgestorbene Volkskunst wird leider auch durch die Pflege nicht lebendiger. Im Gegenteil.

Während im Dritten Reich die „echte deutsche Bauerntracht“ zur politischen Propaganda benützt wurde, erstarb nach dem II. Weltkrieg die Trachtenbewegung zunächst. Alles, was einen „völkischen“ Duktus hatte, war zunächst einmal suspekt.

Soviel zur Tradition und zur Entwicklung bis zum Traditionsbruch, den der II. Weltkrieg ausgelöst hat. Aber was ist heute? Wie sieht der Umgang mit Volkstanz und Tracht in der Moderne aus?
Tracht tragen im Alltag und an Festtagen, Volkstänze tanzen, das passiert heute nicht mehr in der natürlichen Umgebung eines sozial lebendigen Umfeldes eines Dorfes, eines Kirchspiels oder einer Region. Als dies noch Gültigkeit besaß, hatte die Tracht eine indikative Funktion. Nicht nur den Wohlstand konnte man an den Wechselformen der Tracht ablesen, sondern auch persönliche Befindlichkeitszustände und Lebensumstände wie Familienstand, Trauer und Abtrauer, Werktag und Festtag. Das alles fehlt heute. Bis auf ein paar Trachtenspezialisten fehlt selbst den meisten Trachtenträgern das nötige Hintergrundwissen, vom sozialen, natürlichen Umfeld ganz zu schweigen. Oft genug reduzieren wir die Tracht auf die Festtracht. Tracht und Volkstanz pressen wir als Pfleger in eine starre Form und stellen sie als Schauobjekt auf die Bühne!
Tracht als sozialer Indikator funktioniert nicht mehr. Volkstanz als gemeinschaftliches Festgesamtserlebnis funktioniert nicht mehr. Auf keiner normalen Hochzeit wird mehr Tracht getragen (es sei denn, es wären Angehörige von Trachtengruppen), auf keiner öffentlichen Tanzveranstaltung werden noch Volkstänze getanzt. Die natürliche Entwicklung führte uns zu Jeans und Techno.

Und was machen wir? Holen wir denn nicht Totes aus der Grabkammer der Geschichte, stopfen es aus und stellen es bestenfalls als lebendiges Museum auf die Bühne? Und wenn ja, stimmt das dann rein historisch gesehen, so wie wir es machen?
Fügen wir denn nicht Dinge zusammen, die eigentlich gar nicht zusammen gehören?
Volkstänze, wie die Bunten Tänze, die Anna Helms aufgezeichnet hat, stammen aus der Zeit um die Jahrhundertwende, jedoch die meisten unserer überlieferten oder rekonstruierten Trachten sind fast einhundert Jahre älter. Das ist ungefähr so, wie wenn wir in Frack und Zylinder unserer Ururgroßväter zu Technomusik raven würden.

Wir bemühen uns, jedes Fältchen möglichst originalgetreu zu plissieren, wir lassen alten Schmuck nacharbeiten, Stoffe von Hand nachweben, sind also pingeliger als pingelig und gehen doch so großzügig mit Geschichtsabschnitten um, indem wir sie willkürlich kombinieren. Darf man das?

Alle Versuche, Volkstanz und Tracht im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten zu verwurzeln sind gescheitert. Viele Ansätze, beides wieder als Lebensmittel, als elementaren Bestandteil des Festtages zu etablieren, verebbten mit Ausnahme von Bayern kläglich.

Tracht grenzt aus – zumindest die, die keine Tracht ihr Eigen nennen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Seit 8 Jahren feiern wir im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck, in der Nähe des Bodensees gelegen, den Volksmusiktag Baden-Württemberg. Über 30 Volksmusikgruppen spielen hier einen Tag lang in den alten Häusern und auf den Plätzen auf. Es gibt Tanzkurse und es gibt Tanzböden, die in der Regel von den Besuchern ordentlich frequentiert werden – aber nur, solange keine Trachtenträger auf dem Tanzboden sind. Sobald aber bei einer Tanzrunde zuerst Trachtenträger den Tanzboden bevölkern, trauen sich „Zivilisten“ nicht mehr dazu. Tracht grenzt also aus. Tracht wird zum Kennzeichen einer Elite, die es sich leisten kann, wertvolle Trachten herzustellen oder herstellen zu lassen.

Wenden wir uns dem Volkstanz zu.
Eine Volkstanzpflege in Deutschland gibt es seit dem Beginn der Jugendbewegung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Auf die Beweggründe möchte ich hier nicht tiefer eingehen, da dies den Rahmen dieses kleinen Vortrages deutlich sprengen würde. Tatsache ist, dass der Volkstanz, wie auch die Tracht, spätestens mit Beginn der bewussten Pflege ideologisiert wurde, das heißt von einer gesellschaftlichen Gruppe für sich in Anspruch genommen und mit Idealen belegt wurde. Die Schöpfer dieser ersten Pflege waren nicht Historiker und Folkloristen sondern Pädagogen, Künstler, Philosophen und Ästhetiker, die mit einem hohen Maß an idealistischer Gesinnung ans Werk gegangen sind. Ihr Sammlungen wurden nicht durch wissenschaftliche Akribie, sondern durch künstlerische Auslese bestimmt.
Nun sollte man meinen, dass Tracht und Volkstanz schon immer zusammen gehörten. Doch weit gefehlt: Volkstanz- und Trachtenpflege gehen vor dem II. Weltkrieg noch völlig unterschiedliche Wege. Während die Volkstanzpflege Neues kreiert und komplizierte Tanzformen entwickelt, besinnt sich die Trachtenpflege vor allem in Süddeutschland eher auf die traditionellen Formen des bodenständigen Kulturgutes. Aber auch hier presst die Pflege ursprünglich frei gestaltete Tänze, wie den Schuhplattler oder den Ländler in strenge, fest reglementierte und einexerzierte Formen. Und wehe, wenn einer anders tanzt, als es in der Aufzeichnung steht ...
Noch immer sind Volkstanzpflege und Trachtenpflege zwei unterschiedliche Paar Stiefel, die nur auf kurzen Wegen gemeinsam gehen. Die Volkstänzer geben sich längst nicht mehr mit den einfachen bäuerlichen Tanzformen zufrieden. Ein richtiger Volkstänzer hechtet von Lehrgang zu Lehrgang, um immer mehr Neues zu erlernen und er spurtet von Tanzfest zu Tanzfest, um das Erlernte zu erproben. Das Ganze geschieht im Mief von Turn- und Sporthallen. Fast scheint es, die Tänzerinnen und Tänzer bekommen für die zurückgelegten Meter und Kilometer ein Wegegeld. Je schwieriger, je komplizierter die Tanzformen, je diffiziler die Schritte, desto besser. Hier wurde durch die Volkstanzpflege Form und Funktion voneinander getrennt. Dadurch entstand etwas völlig Neues, das mit der ursprünglichen Funktion des Tanzes, die eine gemeinschaftsbildende, gesellige und teilweise auch erotische war, fast nichts mehr zu tun hat. Je komplizierter die Tänze sind, je mehr volkstänzerische Vorbildung vorausgesetzt wird, desto weniger besteht die Chance, dass ein Außenstehender sich auf den Tanzboden verirrt und den Spaß am Volkstanzen entdeckt. Das halte ich für eine eklatante Fehlentwicklung. Wir müssen weg von den Großformen und zurück zu den kleinen einfachen Tänzen und Rundtänzen. Die Volkstanzbewegung muss zur Kur ins Wirtshaus. Nur auf dem engen Raum des Tanzbodens im Dorfgasthaus und nicht in der weitläufigen Turnhalle entsteht die Stimmung und der Nährboden für geselliges Tanzen auf dem sich unsere Volkstänze entwickelt haben. Einen wichtigen Aspekt habe ich noch nicht angesprochen: das sind die Musikanten. Ehret mir die Musikanten, denn sie machen mindestens 50% des Volkstanzes aus.

Noch weiter vorgeschritten und von dem Volkstanz im Sinne folkloristischer Definition entfernt, ist der Schautanz, wie er landauf, landab von den Volkstanz- und Trachtengruppen vorgeführt wird. Nebenbei gefragt: Wer lässt sich schon gerne vorführen?
Vom ursprünglichen Volkstanz unterscheidet er sich dadurch, dass er nur zum Schauen und nicht zum Selbertanzen gepflegt wird. Er ist nicht mehr Allgemeingut, sondern eingeübtes Folkloretanzen für die Bühne. Diese Entwicklung nimmt dem Volkstanz die ursprüngliche, gemeinschaftsbildende Funktion. Das Volk, das nicht mehr selber tanzt, wird bewusst in zwei Gruppen aufgespalten, in eine tanzende und eine zu schauende. Überdies begnügt man sich nicht mit der kleinen Form, sondern erweitert sie, kombiniert mehrere Tänze nach einer übergeordneten Formidee oder einem Inhaltsprogramm zu einer choreographierten Suite. Damit sind wir meilenweit von der Überlieferung entfernt. Denn zur Tradition gehört nicht nur die Form sondern auch die Funktion!

Man darf hier nun nicht den Fehler machen, eine solche „Weiterentwicklung“ gleichzusetzen mit dem fortwährenden „Sichverwandeln“ der Volkstraditionen. Diese natürliche Entwicklung riss zum Ende des 19. Jahrhunderts, spätestens aber mit dem II. Weltkrieg definitiv ab. Heute basiert die Volkstanz- und Trachtenpflege auf zielgerichteter und ideologischer Verbandsarbeit. Insofern ist das, was wir machen, aus wissenschaftlicher Sicht Folklorismus. Denn die Volkskunst ist nicht zielgerichtet sondern Wachstums- und Beharrungsgesetzen unterworfen, die irrational sind.

Fazit:
Alle Wiederbelebungs- und Verankerungsversuche von Volkstanz und Volkstracht im Leben der Mehrheit der Menschen sind gescheitert. Die Zeit ist über die Tradition hinweg gegangen. Erkennen wir und akzeptieren wir, dass die natürliche Entwicklung dem täglichen und auch festtäglichen allgemeinen Trachttragen und Volkstanzen ein Ende bereitet hat – und zwar schon vor einhundert Jahren.

Das heißt aber nicht, dass wir nun unsere Trachten ausziehen sollen und sie auf Nimmerwiedersehen in unsere Schränke auf den Speichern hängen sollen. Nein, weiß Gott nicht. Dem Volkstanz und der Tracht muss ein neu zu definierender Platz geschaffen werden. Wir müssen uns nur dessen bewusst sein, dass wir lebendige Museen, dass wir ein Spiegel der Vergangenheit sind. Und in Museen sollte nicht unbedingt ein buntes Disneyland der Pseudo-Volkskultur gezeigt werden, sondern authentische Traditionen. Das was wirklich war, sollten wir reproduzieren und das, was wirklich zusammenpasst, zusammenfügen. Überlgen Sie sich gut, zu welchen Sendungen Sie ins Fernsehen gehen. Prüfen Sie, ob man Sie nur als Kulisse verwenden will oder ob man wirklich interessiert ist am Thema. Und wenn ein Musikantenstadl anklopft, dann machen Sie es so, wie es die Südtiroler Volkstänzer gemacht haben, verweigern Sie sich. Handgewebtes Leinen passt nicht in die Plastik-Folklore-Fast-Food-Welt eines Karl Moik. Seien Sie sich dafür zu schade!

Tracht und Tanz müssen zeitlich deckungsgleich sein, damit der Zuschauer und auch ihre Mitglieder ein reales, ein möglichst originales Bild der Vergangenheit zu sehen bekommen. Deshalb müssen wir unsere Protagonisten in den Gruppen sehr gut aus- und weiterbilden. Auch das ist ein wichtiger Punkt sinnvoller Verbandsarbeit.
Einen mir wichtigen Appell möchte ich gerne an dieser Stelle loswerden:
Sie selbst sind verantwortlich für den Stellenwert der Tracht. Zeigen Sie sich also bei Festen in Ihrer Tracht, auch außerhalb der Trachtengruppe. Warum sollte man nicht zum Neujahrsempfang beim Bürgermeister in der Tracht gehen? Warum nicht zur Konfirmation oder zur Hochzeit?
Wieviele Koffertrachtler gibt es denn? In Jeans zum Festzug, dann die Tracht anziehen und nach dem Festzug oder Auftritt schnell wieder raus aus der Tracht!

Ich rufe Sie auf: Tragen Sie Ihre Tracht an Festtagen und leben Sie so vor, denn nicht irgendwelche Direktiven von Vorsitzenden und Arbeitsgruppen, sondern das bloße Vorleben findet Nachahmer. Werfen Sie nur einen Blick nach Skandinavien. Die Mitglieder der dortigen Königshäuser tragen zu bestimmten Anlässen selbstverständlich Tracht. Selbstverständlich!
Und noch eines: Wehren Sie sich gegen Ideologien. Die haben der Tracht immer geschadet. Distanzieren Sie sich von Leuten, die ihr braunes Gedankengut mit Tracht und Volkstanz verniedlichen wollen. Und hüten Sie sich vor Leuten, die das eigene Volksgut über das anderer Völker stellen. Jede Kultur ist wertvoll. Außerdem lebt die Kultur und gerade auch die Volkskultur von den Einflüssen von außen. Der spanische Kragen, die russischen Stiefel und die englischen Zylinder, die Mailänder Seidentücher gehören zu unseren Trachten.

Wir sollten uns aber auch als sogenannte „Repräsentationstiroler“ bei Staatsempfängen und dergleichen zu schade sein, wenn die Regierung den Stellenwert von Tracht, Volkstanz und Tradition im Gegenzug nicht auch gebührend stützt und fördert. Für die Hochkultur geben die Länder Millionen aus. Was hingegen die Verbände der Volkskultur erhalten, ist dagegen nur ein Nasenwasser. Auch unsere Politiker müssen erst noch lernen, den Wert der Volkskultur zu erkennen. Wahrscheinlich wird das aber erst dann der Fall sein, wenn unsere Gesellschaft gar keine Werte mehr hat. Und so wie es zurzeit aussieht, wird das nicht mehr lange dauern.

Zum Schluss noch ein weises Wort:

Tradition bewahren heißt nicht, die Asche zu verwahren,
sondern die Flamme am Brennen zu halten.

Herzlichst

Ihr

Wulf Wager


 

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