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Die Bauerntracht der
evangelischen Schwäbischen Alb
Teil 2

von Stephan Zielke

Sagt die Tracht etwas aus? – Von der Zeichensprache der Tracht
 
Die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Varianten der Albtracht für die jeweiligen Anlässe waren für alle Trachtenträgerinnen bindend. Ein Abweichen von den üblichen Kleidungssitten wäre undenkbar gewesen und hätte die Kritik der übrigen Dorfbewohner zur Folge gehabt.
Frau Emma Gebhardt (90 Jahre) aus Altheim berichtet, dass ihre Mutter einmal am Buß- und Bettag nicht das für diesen Tag übliche schwarze „Klagneshäs“zum Gottesdienst trug. Dies blieb nicht unbeobachtet... Als sie schlecht gestimmt vom Kirchgang zurückkam, sagte sie auf Nachfragen ihrer Tochter: „Mr hot mi agsprocha, worom i koi Klagneshäs azoga han!“ Die Frauen wussten, was zum jeweiligen Anlass getragen werden musste. Die für die verschiedenen Anlässe vorgegebenen Zusammenstellungen und Varianten der Tracht gaben den Menschen Sicherheit und eine gewisse Geborgenheit. Die Zeichensprache der Kleidung verband die Dorfbewohner, denn die Frauen trugen annähernd alle die gleiche Kleidung zum jeweiligen Anlass, was die Integration innerhalb der „Dorfgemeinschaft“ bewirkte. Andererseits konnten die Trachtenträgerinnen ihrer Individualität nicht Rechnung tragen, denn ein Abweichen von den dörflichen Kleidungsgepflogenheiten wurde mit Diskriminierung und Ausgrenzung durch die anderen Dorfbewohner bestraft.
In den Dörfern wurde nicht nur, wie von „Träumern und Romantikern“ oft behauptet, eine heile Dorfgemeinschaft gelebt. Es bestand vielmehr eine dörfliche Hierarchie, die es einzuhalten galt. Reiche Roß- und Ochsenbauern wollten sich von Kuhbauern oder gar Tagelöhner unterschieden wissen. Die Ärmeren waren auf die reichen Bauern angewiesen, benötigten sie doch das Einkommen als Tagelöhner, um überleben zu können. Die in Europa im 19. Jahrhundert aufgelöste Ständegesellschaft bestand in abgeschwächter Form im Bauerntum noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst mit den radikalen Veränderungen in der Landwirtschaft in den letzten 50 Jahren verschwanden die Reste der Ständegesellschaft auch im ländlichen Raum.
Eine Möglichkeit, seinen Stand und sein Vermögen anzuzeigen, war die Kleidung bzw. die Tracht. Davon wurde in den Dörfern Gebrauch gemacht.
Die im 19. Jahrhundert abgegangenen Kleiderordnungen, die die Stände voneinander abgrenzte, bestanden bei der Bauerntracht in ungeschriebener und auch abgewandelter Form, aber mit demselben Ziel weiter. Diese „ungeschriebenen Gesetze“ hatten Bestand bis zum Aussterben der Bauerntracht im Alltag. Die Reichen des Dorfes wollten sich bewusst abgrenzen von den Ärmeren. Auch die Albtracht zeigte Unterschiede zwischen Arm und Reich und bewirkte damit eben auch Abgrenzung und bewusste Distanzierung voneinander – bei aller Gleichheit, die im Aufbau der Tracht und den gemeinsam verstandenen Varianten für die verschiedenen Anlässe ausgedrückt war.
Die nachfolgend aufgeführten Beispiele verdeutlichen die Kleidungssprache in der sich Arme und Reiche zu unterscheiden wussten: Teure Röcke bestanden aus schwerem Tuch und wurden als „Tuchröcke“ bezeichnet. Sie hatten ein Gewicht von mehreren Kilogramm und reichten fast bis zum Boden. Die Mädchen und Frauen aus reichen Bauersfamilien mussten deshalb bei schlechtem Wetter den Rock ein Stück hochnehmen, um ein Verschmutzen zu vermeiden. Ärmere trugen etwas kürzere Röcke aus leichterem, qualitativ nicht so hochwertigem Tuch. Der Samtbesatz oberhalb des Rocksaums, als „Sahmet“ bezeichnet, war bei Reichen wesentlich breiter als bei den Armen des Dorfes. Der auf der linken Rockseite angebrachte Rockbesatz, der im Volksmund als „Blege“ bezeichnet wurde, richtete sich in der Breite nach dem „Sahmet“. An der Konfirmation bekamen Töchter reicher Bauern einen „blometen (geblümten) Seidenjacken“, während die Mädchen aus ärmeren Familien lediglich Jacken aus Woll-/Baumwollstoff erhielten. Reiche Bauerstöchter trugen zum „Hochzeitshäs“ glatte schwarze „Jacken“ aus reiner Seide. Arme mussten sich mit glatten Jacken aus Wollatlas begnügen.
Zur Festtracht trugen die Reichen „Sahmetjacken“, in denen man zwar im Sommer stark schwitzte, die man aber trotzdem mit Stolz trug und, um die man von den ärmeren Trachtenträgerinnen sehr beneidet wurde. Auch die an Schürze und Jacke angebrachten schwarzen Spitzen, der sogenannte „Ausputz“, gab Aufschluss über das Vermögen der Trägerin. Je breiter die Spitze und je umfangreicher der Besatz mit Spitzen, desto reicher die Trägerin.
Das am Rock angebrachte „Sahmetleible“ war wie bereits erwähnt geblümt. Die Blümchen waren bei der einfacheren kostengünstigeren Variante aufgedruckt, bei besserer Ausführung mit Seidenfäden aufgestickt, man sprach vom „druckta Leible“ bzw. vom „gnähta Leible“. Ärmere konnten sich allerdings nicht immer ein „gnähtes Leible“ leisten. Da aber zumindest zum „Festhäs“ eigentlich ein besticktes Leibchen gehörte, zogen Ärmere selbst im Hochsommer den „Jacken“ bei der Festtracht möglichst nicht aus, um den Schwindel nicht auffliegen zu lassen. Auch beim Kirchgang wurde Besitz und Stand gezeigt. Die Breite der Moirébänder der „Kirchenhaube“ zeigte ebenfalls wer begütert war – je breiter das Band desto reicher die Trägerin.
Selbstverständlich galt auch damals schon „Schmuck“ als Zeichen des Reichtums. Wer es sich leisten konnte, zog zum „Fest- oder Musikhäs“ Broschen, goldene und silberne Ketten an. Je breiter die Silberkette, desto reicher die Trägerin. Arme verzichteten gänzlich auf Schmuck oder hatten nur schlichte vergoldete Broschen bzw. dezente Ketten.
Die größte Zurschaustellung wurde mit dem „Musikhäs“ betrieben. Töchter reicher Bauern sollten zeigen, aus welchen familiären Verhältnissen sie stammten. Das Vortäuschen eines genähten Samtleibes, wie es beim Festhäs bei Ärmeren üblich war, war hier nicht möglich, denn zum „Musikhäs“ wurde keine Jacke getragen. Das „Musikhemed“ und der „Musikschurz“ wurden je nach Vermögen über und über mit Spitzeneinsätzen versehen. Als Schmuck wurde getragen, was man hatte, also Brosche sowie Gold- und Silberkette, möglichst alles miteinander. Beim „Musikhäs“ war Zurückhaltung nicht vorgesehen. Wer begütert war, der zeigte es bei dieser Tracht in vollem Umfang.
Doch auch regionale Unterschiede bestanden im Bezug auf das Vermögen der Trägerin. Die Bauern der „Hinteren Alb“ – Alb im Raum Laichingen –waren wesentlich ärmer als die reichen Bauern der „Ulmer Alb“. „Sahmetjacken“ wurden auf der „Hinteren Alb“ nicht getragen. Der „Ausputz“ auf Jacken und Schürzen fiel geringer aus und die Spitzen waren oft schmaler.
Der „Sahmet“ (Rockband) und die „Blege“ waren auf der „Hinteren Alb“ wesentlich schmaler. Die Röcke waren oft nicht so lang wie auf der „Ulmer Alb“, somit konnte man Rockstoff sparen. Das gilt auch für die Schürze, denn, je kürzer der Rock, desto weniger Schürzenstoff musste verwendet werden. Eine Bäuerin aus Machtolsheim erzählte mir, dass sich manche Frauen der „Hinteren Alb“ schämten, wenn sie auf der „Ulmer Alb“ unterwegs waren, denn man erkannte an ihrer einfacheren Tracht sofort, woher sie stammten und dass sie ärmer waren.
Reich zu sein bedeutete sein Leben lang, im wahrsten Sinne des Wortes auch gewichtigere Kleidung zu tragen, als dies bei Ärmeren üblich war. Nachdem die „Tuchröcke“ der Reichen aus schwerem Material waren und zudem fast bis Bodennähe reichten, also mehr Material verwendet wurde, waren die Röcke dadurch wesentlich schwerer als die qualitativ geringwertigeren und leichteren Röcke der Ärmeren. Das gleiche gilt für den Unterrock, die sogenannte Kutte. Da es auch hier Unterschiede in der Stoffqualität gab, die ebenfalls das Gewicht des Unterrockes beeinflussten, trugen Mädchen und Frauen aus begüterten Familien buchstäblich schwerer. Dass man im „Sahmetjacken“ der Reichen mehr schwitzte als im geblümten „Seidenjacken“ wurde schon erwähnt.
Das spielte aber in den Augen der Dorfbewohner keine Rolle. Der Wille der Trachtenträgerinnen zur Unterscheidung zwischen Arm und Reich überwiegte und die Ärmeren beneideten die Reichen um ihre schönen Trachtenstücke. Tracht hat eben oft weniger mit Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit zu tun, sondern ist Ausdruck der Repräsentation, des Reichtums und der Würde.
Auch auf der Alb galt reich zu reich und arm zu arm. Deshalb heirateten Reiche vor allem Ihresgleichen und die Ärmeren blieben auch unter sich. Oft waren es keine Liebesheiraten.
Tracht bedeutete für ein Dorf oder eine Region eine eigene Zeichensprache. Die Sprache der Kleidung zeigt einen Anlass (z. B. Abendmahlsgottesdienst, Festtag, Hochzeit, Beerdigung, Werktag), deren Vermögen (arm oder reich) und oft den Stand der Trägerin (ledig oder verheiratet). Diese Sprache ist allerdings nur für ein Dorf oder eine bestimmte Region bestimmt. Nur wer mit dieser Sprache aufgewachsen ist, versteht sie. Zugezogene oder Durchreisende können sich die umfangreiche und oft komplizierte Sprache der Kleidung und deren Deutung kaum aneignen.
Der bäuerlichen Ständegesellschaft war bewusst, dass sie vor allem durch ihre Kleidung innerhalb der „Dorfgemeinschaft“ Gemeinsamkeit aber auch Abgrenzung signalisieren konnte. Gibt es heute noch Trachtenträgerinnen? – Tracht als Alltagskleidung im 21. Jahrhundert
Auch heute gibt es vereinzelt noch Trachtenträgerinnen auf der Schwäbischen Alb. In wenigen Jahren werden allerdings die letzten Trachtenträgerinnen verstorben sein. Wer trägt im Alltag heute noch Tracht? Warum tragen diese Frauen Tracht? Was macht Tracht tragen aus?
Die oben beschriebenen Varianten der Albtracht geben zumindest im Ansatz eine Antwort darauf:
1.) Tracht trägt, wer Bäuerin ist, in der Landwirtschaft arbeitet und sich zum Bauernstand bekennt. Hierfür steht das Werdeg- und das Stallhäs.
Nicht umsonst sprechen die Trägerinnen nicht von ihrer Tracht, sondern von ihrem „Baurahäs“. Alle Trachtenträgerinnen stammen nämlich aus Bauernfamilien oder Tagelöhnerfamilien mit Landwirtschaft im Nebenerwerb. Ihr Leben war ausgerichtet auf das bäuerliche Jahr, die Arbeit in der Landwirtschaft sowie im bäuerlichen Haushalt.
2.) Tracht tragen bedeutet seinen Stand und sein Vermögen/Besitz durch die Kleidung zu zeigen. Hierfür steht das Musik-, das Fest- und das Sonndeghäs.
Vor allem an Sonn- und erst recht an Festtagen zeigten die Mädchen und Frauen den Stand ihrer Familie (reiche Roß- oder Ochsenbäuerin, Kuhbäuerin oder arme Tagelöhnerin) und ihren Besitz bzw. ihre Armut durch gewisse Details ihrer Tracht.
3.) Tracht bedeutet mit dem christlichen Glauben verbunden sein. Hierfür steht das Kircha-, das Konfirmations-, das Hochzeits- aber auch das Klagneshäs.
Alle Trachtenträgerinnen wurden in Kindheit und Jugend im Sinne des Christentums erzogen. Gottesdienst am Sonntag, mehrfaches tägliches Beten, Taufe, Konfirmation sowie christliche Trauung und Beerdigung waren selbstverständlich. Tracht zeigt mit ihren Varianten für kirchliche Handlungen und Anlässe ein Überbleibsel des christlich geprägten Abendlandes, welches dem abendländischen Mittelalter entstammt. Die christliche Haltung spiegelt sich in der Tracht wider.
Tracht tragen bedeutet den Trachtenträgern also mehr als nur schöne exotische Kleidung. Die aufgeführten Punkte wie bäuerliche Arbeit, Anzeigen des Standes und des Besitzes sowie christlicher Glaube sind die Eckpunkte, die Trachttragen im Alltag ausmachen. Für diese Frauen ist ihre Tracht keine Verkleidung, sondern Alltag. Wobei der Bezug bei den Trachtenträgerinnen zu ihrer Kleidung wesentlich enger ist als beim konsumorientierten Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts, dessen Geschmack sich innerhalb weniger Jahre ändert und der in seinem Leben immer wieder erstaunt und fast entsetzt ist, wenn er ehemalige Kleidungsstücke von sich betrachtet: „Solche Klamotten habe ich mal gerne getragen – nein, kaum zu glauben, das ist so was von altmodisch! Weg damit in die Altkleidersammlung!“. Die Trachtenträgerinnen stellen das genaue Gegenteil dar. Ihre Erziehung war darauf ausgerichtet, möglichst das gesamte Leben, die in die Aussteuer angeschaffte Kleidung zu tragen und diese noch so zu schonen, dass sie auch noch weitervererbt werden kann. So tragen die heute noch lebenden Trachtenträgerinnen auch Trachtenstücke, die sie von ihren Müttern geerbt haben. Die Frauen sind der Auffassung, dass die „bäurische“ Tracht, im Gegensatz zur „herrischen“ Mode, nie unmodern wird und immer zeitgemäß ist. Es geht den Trachtenträgerinnen also nicht um immerwährenden Konsum, sondern um Erhalt ihrer in die Aussteuer angeschafften Kleidung. Das unterscheidet sie wesentlich vom Menschen unserer heutigen Gesellschaft, der kurzfristig denkt und der seine „Schale“ immer wieder erneuern möchte, denn Mode ändert sich schnell.
Bleibt zum Schluss die Frage, was Tracht tragen in Trachtenvereinen oder Volkstanzgruppen bedeutet? Fest steht: Die Tracht im Alltag hat heute keine Daseinsberechtigung mehr. Die bäuerliche Ständegesellschaft mit ihren Komponenten (Arbeit in der Landwirtschaft, Anzeigen des Vermögens, christlicher Glaube) existiert heute nicht mehr. Somit ist der Tracht ihre Grundlage entzogen, deshalb musste sie aussterben. Was wir heute unter Trachtenpflege und Brauchtum verstehen, ist ausschließlich Folklorismus und hat mit Tracht in ihrer ursprünglichen Bedeutung nichts mehr zu tun. Tracht tragen ist zu einer Möglichkeit der Freizeitbeschäftigung und des Freizeitvergnügens geworden. Ihre tiefe symbolische Bedeutung ist den meisten Trachtenträgern nicht bekannt, und oft fehlt auch der Anspruch, sich damit auseinander zu setzen. Was Trachtenfeste und -umzüge darbieten, wird daher dem, was Tracht bedeutet und aussagt, nicht gerecht. Vielmehr wird bei den Folkloreveranstaltungen meistens ein heiles Landleben vorgegaukelt, das so niemals existierte. Die Nähe der Folklore zum Kitsch kann oft nicht verleugnet werden. Im Folklorismus suchen viele Menschen in Zeiten der Globalisierung ihre überschaubare Welt, ihre Geborgenheit und ihre Identität und versinken gerne in eine Art Scheinwelt – was freilich nicht zu verurteilen ist.

Kleine Korrektur zum ersten Teil dieses Artikels:
Am Buß- und Bettag wurde nicht der „braune Rock“ (Abtrauertracht), sondern das schwarze „Klagneshäs“ (Trauertracht) getragen.

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