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Aus: STZ vom 03.03.99

Was prägt die Sachsen?


Leipziger Forscher suchen die Wurzeln regionaler Identität
  An der Leipziger Uni startet ein spektakuläres Millionenprojekt, das erforschen soll, wie Heimatverbundenheit entsteht. Die Sachsen gelten dafür bundesweit als exemplarische "Eigenbrötler".
  Der Sachse an sich ist ein legendenumwobenes Wesen. Die Zahl jener im übrigen Deutschland, die sie bewundern ob ihrer steten Umtriebigkeit, ist mindestens ebenso groß wie die jener, die sie beneiden oder auch belächeln, vor allem wegen ihrer schlabberigen Aussprache. Dies ist ein Widerspruch, auf den sich die Sachsen bis heute selbst keinen rechten Reim machen können, jedenfalls keinen wissenschaftlich tragfähigen.
  Schon immer hielten sie ihre Heimat für ein deutsches Kernland. Das war vor 1000 Jahren so, als sie die ersten beiden Kaiser stellten, und ebenso in der DDR - aber keineswegs wegen des in Leipzig geborenen Walter Ulbricht. Wenn Sachsen - das damals in die Bezirke Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig aufgeteilt war - Schnupfen kriege, überkomme die Republik ein Grippe, hieß es. Mithin war es undenkbar, daß die Wende im Herbst 1989 woanders losgegangen wäre als in Leipzig und Dresden, Plauen und Zittau.
  Die Sachsen hätte es immer ein bißchen leichter gehabt, das unterstellen Insider dem Volksstamm. Ihre Sprache wie ihre wohl nur noch den Schwaben vergleichbare bodenständige Mentalität spielten dabei eine wesentliche Rolle. Zwei Grundpfeiler, auf die sich bis heute sächsische Identität gründet. Was daran Mythos ist und was belegbare Realität, darüber streiten Gelehrte seit Jahrhunderten. Denn auch in anderer Hinsicht nehmen die Sachsen seit 150 Jahren einen traurigen Spitzenplatz ein: bei den Selbstmorden. Etwa drei Menschen nehmen sich auch heute im ostdeutschen Freistaat Tag für Tag das Leben. Die Gründe dafür sind völlig unklar. Möglicherweise liege es daran, mutmaßen Forscher seit langem, daß die Sachsen seit Luthers Zeiten Protestenten seien.
 
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Um diesem Zwist ein Ende zu bereiten, startete jetzt an der Universität Leipzig ein spektakuläres Forschungsprojekt. 30 Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen der zweitältesten deutschen Alma mater begeben sich mit großem Aufwand auf die Suche nach den Wurzeln sächsischer Identität.
  Insgesamt 1500 Sachsen, repräsentativ ausgewählt in der alten Handelsstadt Leipzig sowie im Landkreis Mittleres Erzgebirge, werden dazu in drei Wellen interviewt: 2000, 2004 und erneut 2008. Ergründen sollen die Befragungen vor allem Wertvorstellungen, Traditionsgefühl und die Verankerung in der unmittelbaren Heimat, erläutert Professor Heinz-Werner Wollersheim. Das Projekt soll letztlich verallgemeinerungswürdige Thesen auch für andere Landsmannschaften zu Tage fördern. Dazu richtete die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Leipziger Uni einen von Wollersheim geleiteten Sonderforschungsbereich ein.
  Herausfinden wollen die "Saxoniker" beispielsweise, was eine Region zur Region macht und weshalb deren Bedeutung derzeit wächst. Antworten erhoffen sie sich auch auf die Fragen, wie sich in den Köpfen der Leute regionale Identitätsmuster herausbilden können und wie sich diese steuern oder beeinflussen lassen. Es sei immer noch unklar, woraus die oft unverlierbare Verbundenheit der Bewohner mit ihrem unmittelbaren Lebensraum entstehen, sagt Wollersheim.
  Landläufig immer wieder aufgeführte Ursachen für regionale Identität, wie Heimatliebe, gemeinsame Geschichte, gleicher Dialekt und ähnliche Lebensumstände, greifen für die Forscher zu kurz. Denn die sozialen Beziehungen der Leute zueinander, ihr spezifisches Fühlen, Denken und Handeln, würden hierbei nur als Momentaufnahme beleuchtet, nicht aber als Prozeß. Wollersheim erwartet das unsichtbar einigende Band eher in einer bestimmten Sinnordnung, das durch gemeinschaftliches Erleben und Mitgestalten gefördert wird. Also wollen die Interviewer herausfinden, was die Sachsen an ihre Heimat bindet und unter welchen Umständen sie diese verlassen würden - oder auch nicht.
  Selbst in Schulbüchern und Behördenarchiven fahnden sie nach Indizien für das Entstehen sächsischer Selbstfindung seit der Reformation. Untersuchungen finden überdies zum Konsumverhalten sowie zu den lukullischen Neigungen und Schwächen des Menschenschlages statt, der gemeinhin als Kaffeesachsen firmiert. Ob sich ein stärker regionalbezogenes Verbraucherbewußtsein, wie seit je in Bayern oder im Schwarzwald zu beobachten, künftig auch in Sachsen identifikationsstiftend niederschlägt, ist einer der zu klärenden Aspekte.
  "Sachsen bot sich exemplarisch an, weil trotz politischer Umbrüche, territorialer Veränderungen und steter Weltoffenheit die Verwurzelung der Bürger immer fortbestand", so Wollersheim. Seit Jahrhunderten werde hier "Eigenes und Fremdes sehr stark betont", und trotz des im Verlaufe der Jahrhunderte wechselnden Zuschnitts der Landesgrenzen sei nie das "sächsische Übereinstimmungsgefühl" verlorengegangen.

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