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Der neuen Welt ein neuer Rock
Ein Streifzug durch die württembergische Bekleidungsgeschichte

haspel-press tübingen
„Unsere Kulturkleidung ist eine alberne und heillose Einrichtung“, klagte der Naturforscher Gustav Jaeger vor mehr als 100 Jahren, nachdem er sich im Dauerlauf versucht hatte. Kurzerhand entwarf der Schwabe neuartige Trikot-Beinkleider, die mehr Bewegungsfreiheit versprachen, dazu Zehenstrümpfe, die lästigen Fußschweiß aufsaugen sollten. Jaeger war zum Kleiderreformer geworden und hatte damit maßgeblichen Anteil an der württembergischen Bekleidungsgeschichte.
Nähmaschine, Rundwerkstuhl und Handstrickmaschine ermöglichten Mitte des vorigen Jahrhunderts die industrielle Massenfertigung von Kleidern. Der Stuttgarter Fabrikant Wilhelm Bleyle setzte - im Gegensatz zu Jaeger - weniger auf die gesundheitliche und heilende Wirkung der „zweiten Haut“. Als er 1889 die Maschinen anlaufen ließ, hatte er vor allem die Strapazierfähigkeit seiner Kollektion im Visier. Der Matrosenanzug, das bekannteste und unverwüstliche Bleyle-Produkt, avancierte zum Aushängeschild der Firma. „Bleyle“ wurde Garant für Haltbarkeit und Qualität. Vom kratzenden „Matrosenanzügle“, das nicht kaputtzukriegen war, wissen ehemalige Träger noch heute ein Lied zu singen. Hatte der Anzug tatsächlich einmal Löcher oder wurde er zu knapp, flickte Bleyle die durchgescheuerten Hosenböden und verlängerte Arme und Hosenbeine kostenlos. Die Bekleidungsfirmen waren familiär, aber streng patriarchalisch organisiert: von Männern geführt und von Frauen als Angestellten getragen. Bezeichnend für den hohen Identifikationsgrad mit dem Betrieb ist die Aussage einer langjährigen Bleyle-Arbeiterin, die in einem Interview meinte: „I wär für dr Bleyle durchs Feuer ganga.“
Nur selten waren Textilien der Stoff, aus dem die Träume sind. Das galt besonders für die Fabrikarbeiterinnen. Nach Feierabend und an den Wochenenden erwarteten sie im eigenen Haushalt oft Berge von Kleidern, die gewaschen, gebügelt und gestopft werden mussten. Auch viele der gängigen Modevorstellungen brachten den Frauen mehr Frust als Lust. Dem Ideal einer wespenartigen Taille nacheifernd, quetschten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahllose Frauen der Bürger- und Arbeiterschicht in Korsetts. An Schnüren wurde gezerrt und gezogen, wobei die Betreffende den Atem anhalten musste, bis der zusammengepresste Leib mit Ösen und Haken fixiert war. Nur schwer konnten sich die Frauen diesem Modediktat entziehen.
Anders war dies im dörflichen Alltag, in dem Aussehen eine geringere Rolle spielte und der Mode nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Wichtig war hier der Stoff in Form von Wäsche. Für die Brautaussteuer gab es dem Stand entsprechend genauere Vorstellungen, was und wieviel an „Weißzeug“ bis zur Heirat aufzubringen war. Am Hochzeitstag stapelte man die einzelnen Stücke akkurat im Wäscheschrank. Die Dorfbewohnerinnen zogen dann am offenen Schrank vorbei und beäugten den Wäschebesitz. Eine Abwechslung in ländlichen Gegenden bot der so genannte „Nähtag“. Wenn eine Schneiderin mit ihrem Handwagen ins Haus kam, um gar ein Sonntagskleid zu nähen, wurde sie stürmisch begrüßt: „D’ Nähere kommt, s’isch a Festtag!“
Während die bäuerlichen Rituale rund um die Wäsche noch lange gepflegt wurden, änderte sich in den Städten das Kleidungsverhalten schneller. Freizeitsport, Angestelltenkultur und Emanzipation erforderten eine den neuen Bedürfnissen angepasste Kleidung. So kürzten Frauen in den zwanziger Jahren nicht nur ihre Haare, sondern auch den Rock. Selbst die eher konservative Firma Bleyle brachte jetzt ihre ersten drei Frauenhosenmodelle mit Namen „Ria, Ruth und Renate“ heraus. Auch die Bleyle’sche Stoff-Farbpalette wurde erweitert, wobei die Farbtöne „stein- oder mausgrau“ aus heutiger Sicht nicht unbedingt zum Kauf einladen würden.
Zielgruppe von Bekleidungsfirmen und Konfektionshäusern waren in erster Linie Frauen. Männer galten in Modefragen als „konservativ und unflexibel“ (Gustav Jaeger), mit dem Ergebnis, dass man sie als aktive Konsumenten ausklammerte. Heute hat sich zumindest für Werbemanager das Bild des männlichen Modemuffels gewandelt. Nach einer aktuellen Umfrage kaufen inzwischen immerhin fast 50 Prozent der Männer ihre Unterwäsche selbst. Nicht wenige konvertierten dabei vom weißen Doppelripp mit Eingriff zum Sportslip oder gar zum Tanga.
Größere Bedeutung als den Dessous kommt immer noch den Kleidungsstücken zu, die für alle sichtbar sind und auch gesehen werden sollen. Neue Lebensstile bringen ein neues Kleidungsbewusstsein hervor, und Kleider sind heute mehr denn je Statussymbol. Dieser Trend drückt sich in teuren Markenartikeln aus, deren Name Exklusivität garantieren soll. Kleidung heute - ein Massenprodukt, das mit Individualität wirbt.
 
haspel-press, Tübingen
 
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