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Wulf Wager

Sackpfeife, Hackbrett und Harmonika
Schwäbische Volksmusik früher und heute


Wenn einen morgens der Radiowecker aus sanften Träumen weckt, das wasserfeste Duschradio den Akt der Körperreinigung begleitet, uns das Autoradio den Weg zur Arbeit verkürzt, sanftes Gedudel unseren Einkaufsbummel untermalt und abends der Fernseher uns die heile Welt von Marianne und Michael in unser Wohnzimmer bringt, dann kann man sich nur schwer vorstellen, daß vor rund 200 Jahren Musik nur Sonntags in der Kirche und bei den wenigen Tanzanlässen zu hören war.
 
Der einfache schwäbische Landmann oder Städter kam höchst selten in den Genuss von Musik. Um so wichtiger waren jene wenigen Tanzanlässe, die das strenge Kirchenjahr zuließ. Fasnacht, Ostermontag, Pfingsten, die Sichelhenke und die Kirbe, das waren beliebte und sehnsüchtig erwartete Termine. In der Adventszeit, der vorösterlichen Fastenzeit sowie in der Ernte im Hochsommer, waren keine Tänze und somit auch keine Musik erlaubt. Auch die kirchliche und weltliche Obrigkeit sah das "unzüchtige Danzen" nicht gerne. Zahlreiche Kirchenkonventsprotokolle und Gerichtsakten belegen dies. Gesungen und getanzt wurde immer auf dem Dorf und in der Stadt. Ob bei Anlässen wie einer Hochzeit, ob bei Bräuchen, wie der Fasnacht oder dem Schäferlauf, oder bei wilden Winkeltänzen in der Lichtstube - das Bedürfnis nach solchen Veranstaltungen war groß.
 
Die Musikanten, die man zum Tanzen brauchte, waren bis in das 19. Jahrhundert hinein Teil des fahrenden Volkes, also in der Ständepyramide die allerunterste Schicht. Sie stehen in einer Reihe "mit ander liederlichem dem Staate äusserst schädlichem Gesindel": "Jaunern, Mördern, Strassen=Räubern, Zigeunern, Markt= Tag= und Nacht=Dieben, Beuttelschneidern, Mordbrennern, Falsch Geld=Münzern, Betrügern, Falschbettlern, Schazgräbern". Im Königreich Württemberg war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Aufenthalt verboten: allen vagierenden Spielleuten, Gauklern, Taschenspielern, Marktschreiern, Scholderern, Glückshafen- und Raritätenkastenträgern ...
 
Es ist die gesamte Tanzsituation, die sich den Regeln der guten Sitten entzog. Die Tanztermine waren eingeschränkt, die Anlässe normiert. Zahllos sind die Verbote, die das Tanzen überziehen. Manchmal war es eine bestimmte, unzüchtige Art zu tanzen. Ein anderes Mal war es der heimliche Ort und die späte Zeit, die suspekt waren.
 
Ein Verbot aus Schramberg:

"Die abhaltung der tänzen undt Hochzeiten an Sonntäg besonders um so mehr ganz ohnanständig seyn will, aller gestalten auf die weiß offtmahls der Sabatt deß Herren mit tanzen, fluchen, Schwören, schlagen und rauffen bey solchen anlaßen Entheyliget ... Wenn aber ... Einige tänz Erlaubet werden, sollen die spihlleith und Musicanten um 9 uhr abendts alßbald ihre Instrumenten bey seiths legen, und ohne weiteren anstand zu spihlen aufhören bey 6. F. 24 kr. straff."

Tänze boten ein Erlebnis für die ganze Familie. Sehr zum Leidwesen der Ortsgeistlichen. Aus dem Verkündbuch des Pfarrers aus Fridingen a.D., 8. November 1834: "Nach höchsten Gesetzen dürfen die Schulkinder zu keiner Tanzmusik gelassen werden. Wenn ich das Gegenteil erfahre, so werde ich solche mit der Rute exemplarisch züchtigen und wenn die Eltern etwas dagegen haben, dann bekommen sie auch mit dem dicken Teil der Rute über den Buckel hinein."
 
Der evangelische Pfarrer von Köngen, Daniel Pfisterer, dichtete zu Beginn des 18. Jahrhunderts: "Wan(n) die pfeiff= und Lejer tönen so vermeint der Bauershauff, Vor begierde zu dem Tantze (...), als gieng Ihm der Him(m)el auff.
 
" So war denn auch der Tanzboden ein beliebter Heiratsmarkt. Die "Volksmusik" ist laut Definition die musikalische Ausdrucksform der ländlichen Bevölkerungsschicht. Sie ist also als klarer Gegensatz zur Kirchenmusik oder zur klassischen Musik des Adels und der höheren Stände zu sehen. Als solche war sie Gebrauchsmusik, die aber im weiteren Sinne eben auch eine soziale Funktion hatte.
 
Musikanten hatten einen gesellschaftlichen Sonderstatus. Sie waren viel geliebt und verehrt, wenn sie auf dem Tanzboden mit der Sackpfeife, der Drehleier, dem Hackbrett oder der Geige "aufgemacht" haben. Genauso waren sie aber außerhalb des Wirtshauses wegen ihres meist starken Alkoholgenusses und der intensiven Verehrung des weiblichen Geschlechts verachtet.
 
Typische Instrumente der Unterschichten waren bis ins 18. Jahrhundert die Drehleier und die Sackpfeife. Ein solches Ein-Mann-Orchester reichte vollkommen. Weitere Instrumente konnten hinzutreten, Schwegelpfeife etwa oder eine einfache Schalmei. Niemand schrieb Besetzungen vor, es wurde nicht nach Noten gespielt, ja, meist konnten die Musikanten überhaupt keine Noten lesen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerfiel die Musikkapelle in Aixheim, da "die Mitglieder keine Notenkenntnisse besaßen und ihre Ziele über einfachste Tanzmusik nicht hinausgingen", und somit den musikalischen Ansprüchen der Zeit nicht mehr genügten.
 
Waren es noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die eben schon genannten Instrumente und vor allem auch kleine Streichbesetzungen, so bringen nun einige Erfindungen frischen Wind in die ländliche Musik. Um 1825 herum beginnt mit der Erfindung des Ventils für die Trompete der schier unglaubliche Siegeszug der Blasmusik. Erste kleine, d.h. 4-6 Mann große Blasbesetzungen spielen ab etwa 1860 zum Tanze auf. Selbstverständlich erfüllten diese Musikanten auch andere musikalisch-gesellschaftliche Verpflichtungen, wie etwa das Aufspielen bei Beerdigungen, Prozessionen oder Investitur eines neuen Pfarrers. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts werden die Musikkapellen größer.
 
Der Einfluß der Militärkapellen, in die nach der Musterung so mancher Dorfmusikant aufgenommen wurde, wird erkennbar. Auch bei dieser Art zu musizieren kamen entscheidene Impulse vom Lehrer.
 
Auch die Mundharmonika und auf ihr basierend die Handharmonika und das Akkordeon hielten ab 1840 Einzug in die Tanzmusik. Hohner begann 1857 Mundharmonikas in Trossingen zu fertigen. Insbesondere die Handharmonika verdrängte die Sackpfeife in Schwaben und ersetzte ein ganzes Orchester funktional. Etwa um 1900 quetschte der letzte Dudelsackspieler einen alten Ländler aus seiner Sackpfeife. Auf der Diskantseite konnte man auf der Harmonika eine zweistimmige Melodie spielen, die auf der linken Seite durch die für den Tanz wichtigen rhythmischen Grundfunktionen Bass und Nachschlag ergänzt wurde.
 
Die Lieder, die zu später Stunde in den Wirtshäusern gesungen wurden waren wenig schön und anständig. Sie waren wüst, säuisch und unanständig. Mit dem Interesse Herders an den "Volksliedern" und der Sammelleidenschaft von Germanisten wie Ernst Meier, der im vergangenen Jahrhundert die Texte von schwäbischen Volksliedern (natürlich nur von den anständigen) gesammelt hat, beginnt ein neuer Umgang mit dem Volkslied, das sich bis dahin keinen Regeln unterwerfen mußte. Es mußte weder schön im Text sein, noch sauber intoniert vorgetragen werden. Es war einfach nur da und erfüllte die Menschen mit den verschiedensten Empfindungen.
 
Friedrich Silcher sammelte Volkslieder und schrieb auch selbst welche. Die Musikwissenschaft spricht hier von "Kunstliedern im Volkston". Silcher schrieb nun Chorsätze für Männerchöre. Und in fast jedem Ort des württembergischen Landes gründeten sich ausgehend vom Stuttgarter Liederkranz ab 1824 Chöre und Gesangvereine. Die überregionale Bewegung des Sängerbundes kam in Gange. Von nun an wurde das Volkslied in Chören gepflegt. Das Ursprüngliche einer Ballade, vielleicht in freier Zweistimmigkeit von zwei alten Frauen vorgetragen, oder eines frechen, situationsgebundenen Vierzeilers, der auf dem Tanzboden spontan gedichtet und vorgesungen wurde, hatte von nun an keine Chance mehr. Mit seinem Ansinnen, "Volkslieder" zu pflegen, erreichte Silcher nun das krasse Gegenteil.
 
Verbreiteten sich Melodien früher nur durch das Zuhören und Nachspielen, so brachte die Schallplatte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Melodien massenhaft unter die Leute. Von nun an war Musik jederzeit reproduzierbar, d.h., sie war immer und überall zu haben und hing nicht von der Anwesenheit eines Musikanten ab. Damit beginnt das Ende der Volksmusik im ursprünglichen Sinne und auch das Ende des einfachen dörflichen Musikantentums. Auf Schallplatten und später auch im Radio waren natürlich nur bestens ausgebildete Sänger und Musikanten zu hören. Von nun an streben Laienmusiker dem Können von professionellen Musikern zu.
 
Im Dritten Reich wurde alles "völkische" stark protegiert. Die gesamte "Volkmusik" unterstand der Reichskulturkammer und wurde zentral gelenkt. Schwäbische Volksmusik im "ersten Leben" findet das Interesse von Volkskundlern und Hobbyforschern. Tänze, Lieder und Gebräuche werden schriftlich fixiert. Dies ist zwar eine neue Art der Überlieferung, aber gleichzeitig auch das Todesurteil der lebendigen Tradition.
 
Von nun an wird Volksmusik "gepflegt". Das heißt, nicht mehr die Alten geben ihre Lieder, Melodien und Tänze an die Jungen weiter - es sind jetzt Heimatpfleger - hauptamtliche und ehrenamtliche -, die sich um die "Erhaltung alten Kulturgutes" kümmern.
 
Volksmusik, Volkstanz und Volkslied verlassen den natürlichen Nährboden des Wirtshauses. In Trachten, werden nun die schriftlich fixierten schwäbischen Tänze, Lieder und Weisen auf der Bühne dargeboten. Volksmusik degradiert zur Propaganda-Blut und Boden-Schau. Die gleiche Funktion hat die Volksmusik heute auch noch, nur zeigt sie sich als Touristen-Folkloreshow.
 
Nach dem 2. Weltkrieg bekommt der Begriff "Volksmusik" eine ganz neue Dimension. In der Sehnsucht der 50er Jahre nach "Friede, Freude, Eierkuchen", beginnt sich eine unglaubliche Heimatkitschwelle mit meist alpenländischem Touch über uns zu ergießen. Heimatfilme und Heimatmelodien überdeckten unser Land.
 
Mit dem Abebben der Schlagererfolgswelle zum Ende der 70er Jahre, entdecken findige Medienmanager die "Volksmusik" als gewinnträchtiges Metier. Es ist allerdings nicht die überlieferte schwäbische Musik, die reanimiert wird. Es sind immer wiederkehrende alpenländische Klischees die ständig neu angerichtet, "Schlager im Dirndlgewand" präsentieren.
 
"Die Sehnsucht nach Heimat, ein Grundbedürfnis des Menschen, wird in der von nun an immer bedeutsamer werdenden "volkstümlichen Musik" gnadenlos ausgenutzt. Volkstümliche Musik ist die musikalische Parallele des röhrenden Hirsches in der Malerei. Eine entscheidende Rolle für die Verwechslung von Volksmusik und Kitsch spielen die Medien. Grand Prix der Volksmusik, Schlagerparade der Volksmusik und viele anderen Sendungen der volkstümlichen Unterhaltung vermischen ganz bewußt beide Begriffe, impliziert das Wort Volksmusik doch Volksverbundenheit und die Legitimation im Namen des Volkes zu singen. Die volkstümliche Musik meidet generell den Widerstand zur Masse oder herrschenden Meinung. Tümlich kommt von "so tun als ob". Nicht das Volk tut hier "so als ob", sondern eine verkaufsinteressierte Industrie in bester Kumpanei mit Fernsehsendern und Radioanstalten. Sie verbreiten ein "Surrogat an verlogenen Glücksgefühlen und abgefeimten banalen Musikklischees", so Hans Well, Textautor der Biermösl Blosn, einer der bekanntesten bayrischen Volksmusikkabarettisten-Gruppe.
 
Im bewußten Gegensatz dazu forscht der "Arbeitskreis Volksmusik" im Landesmusikrat nach schwäbisch-alemannischen Überlieferungen. Abschriften von über 100 Jahre alten handschriftlichen Notenbüchern werden für die Musizierpraxis in traditionellen Besetzungen neu publiziert. Auf Lehrgängen und Seminaren werden alljährlich Hunderte in die Geheimnisse der schwäbisch-alemannischen Volksmusik eingeweiht.
 
Seit 1997 findet einmal jährlich der Volksmusiktag Baden-Württemberg im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck statt. In diesem Jahr waren es über 30 Ensembles, die sich der traditionellen schwäbisch-alemannischen Volksmusik verschrieben haben, die in den alten Stuben, Scheuern und auf dem Dorfplatz aufgespielt haben. Es gab keine Bühnen, keine Lautsprecher und somit keine Grenzen zwischen Musikern, Tänzern , Sängern und Zuhörern. Alles verschmolz zu einem lustvollen Ganzen: Volksmusik im ursprünglichen Sinne, jenseits von Kitsch und Kommerz, live und ohne doppelten Boden, frei vom tümelnden Musikantenstadl-Playback.
 
Der Schwäbische Albverein hat sich in den letzten Jahren gemeinsam mit dem Schuttertäler Sackpfeifenbauer Helmut Moßmann stark um die Reanimation der schwäbischen Sackpfeife gekümmert. An die 200 Spieler dieses über 500 Jahre die Tanzböden der niederen Schichten dominierenden Instrumentes gibt es nun wieder im Schwabenland.
 
Langsam beginnt sich die "schön gepflegte" Volksmusik wieder aus der sauber gebügelten Trachtenhose zu schälen und den Rückzug - oder Vorstoß - ins Wirtshaus anzutreten. Dort wo sie eigentlich hingehört, kann sie sich aber nur entfalten, wenn es wieder Dorfwirtshäuser gibt, in denen ein Stück handgemachte Musik, "unplugged" und gerne auch nicht so perfekt wie in Radio und Fernsehen, geschätzt wird und nicht von einem Einheitsklangteppich überdeckt wird, der sich aus hinter sorgsam gebundenen Ährensträußen versteckten Lautsprechern in die Wirtsstube ergießt. Die Originalität zählt, nicht die Professionalität der Darbietung.
 
TIP:
Dieses Jahr findet der Volksmusiktag Baden-Württemberg "So klingt`s im Ländle" in Verbindung mit dem Volksmusikwettbewerb am 2. und 3. September im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck statt
 

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